Szene ⑤

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„Konntest du im Zimmer irgendwelche Hinweise finden? Spuren eines Entführers?" Fria keuchte, während sie ausgeregt hin und her hüpfte. Man sah ihr an, dass sie geweint hatte, doch nun rauschte das Adrenalin durch ihre Adern.

Bevor sie auf Lilia getroffen war, hatte sie bereits Benno und Jasper aufgesammelt und diese hatten versucht, ihr gut zuzureden. Noch war Malea nicht verloren.

Gemeinsam mit Lilia jagten die drei nun durch den Wald. Es war allen klar gewesen, wohin ihre Suchaktion sie führen würde. Zum einen kannten sie sich dort besser aus als die Polizei, zum anderen war hier bereits Lani ermordet worden, weshalb der Zusammenhang nahelag.

Wenn sie Malea finden würden, dann hier im Wald!

„Keine Angst Fria, wir finden sie." Benno hatte Frias Hand genommen und auch wenn diese Geste in normalen Situationen vielleicht unpassend gewesen wäre, im Moment war es allen egal.
„Mir fällt gerade auf", sagte Jasper schwer atmend, „dass der Wald heute relativ laut ist. Wisst ihr noch, wie die Stimmung nach Lanis Verschwinden war? Damals schien es, als hätte die Tiere in den träumenden Wäldern Angst, so ruhig war es. Doch nun wirken sie aufgeschreckt." 

„Und was soll uns das sagen?", fragte Lilia keuchend. Sie wollte nicht mehr rennen. Ihre Beine schmerzten und ihre Lungen brannten, sie rang nach Atem. Doch sie durfte jetzt nicht aufgeben.

„Vielleicht sind Malea und der vermeidliche Entführer nicht hier im Wald. Die Tiere fühlen sich auf jeden Fall nicht bedroht."
Fria gluckste. „Oder sie haben einfach Angst vor dem Killer und sind deshalb laut und aufgeregt."

„Ja, oder das."

„Wisst ihr, wo wir gerade sind?" Benno drückte Frias Hand ein wenig fester, da er sich nicht sicher war, wie sie reagieren würde, wenn sie verstand, was er meinte.

Jasper war es sofort klar. „Noch etwa fünfzig Meter, dann sind wir auf der Lichtung, auf der Lani gestorben ist." 

Benno nickte. „Das macht mir Angst." 

Frias Hand erbebte. Sie schien ähnlich verängstigt. „Ich will da nicht hin." 

„Aber wir müssen nachsehen. Nur, wenn wir den ganzen Wald überblickt haben, können wir sicher sein, dass Malea nicht hier ist."

Fria schluckte. „Meinetwegen. Aber ihr geht vor."

Jasper übernahm die Führung und atmete einmal tief ein und aus. Dann trat er aus dem Schatten der Bäume auf die Lichtung. Lilia folgte, leicht zitternd.

Die Szenerie, die sich ihnen bot, war erschreckend. Düster, brutal, angsteinflößend. Sie raubte allen Anwesenden den Atem.

Malea lag auf einem Baumstamm. Nicht weit entfernt von der Stelle, an der sie Lani vorgestern gefunden hatten. Ihre Haare lagen wie ein roter Teppich um ihren Kopf herum, die Lippen waren mit blutrotem Lippenstift geschminkt. Ihr zierlicher Körper steckte in einem roten Ballkleid, was der Szene einen majestätischen und friedlichen Eindruck verschaffte. Neben dem Körper lag eine alte Lampe, die durch flackernden Kerzenschein Licht von sich gab. Merkwürdig, dass sie dann schon mit Batterie betrieben wurde.

Hätte man nicht gewusst, dass Malea im Koma lag, hätte die Szenerie ein friedliches Bild abgegeben. Doch sobald Lilia ihre Freundin erblickte, stieß sie einen spitzen Schrei aus und rannte zu ihr.

Maleas Körper war eiskalt, trotz der milden Sommernacht. Ihre Augen waren geschlossen und sie roch nach wilden Gänseblümchen. Eindeutig ein Parfüm, welches Lilia jedoch noch nie an ihrer Freundin gerochen hatte.

Lilia setzte sich langsam neben Malea auf den Baumstamm. Dieses Mal weinte sie nicht. Ihre Tränen waren dem Schock gewichen.

Sachte legte sie ihre Hand auf Maleas Brustkorb und wartete. Wartete auf einen Herzschlag oder eine Regung ihres bewusstlosen Körpers. Doch die Regung blieb aus.

„Hilfe", krächzte Lilia. „Ihr müsst Hilfe rufen."

Benno reagierte sofort. Er ließ Frias Hand los und übergab sie Jasper, dann drehte er sich um und rief erst einen Krankenwagen und dann die Polizei an. Immerhin war das hier ein Tatort. Vielleicht war Malea noch nicht verloren, doch irgendwer hatte geplant, sie ihrem Tod zu überlassen. Das Ballkleid sprach für sich.

„Sie sind gleich da", versprach Benno und ging zu seinen Freunden, die sich mittlerweile alle um Malea verteilt hatten. „Jetzt müssen wir abwarten und hoffen." Er lehnte seinen Kopf an Frias Schulter und nahm die Hand der mittlerweile völlig kalten Malea.

Die vier Freunde sprachen nicht miteinander. Sie saßen auf dem Baumstamm und dem Gras und beteten, jeder auf seine Weise. Fria hoffte auf eine Regung ihrer Freundin. Benno sagte sich immer wieder selbst, dass Malea aufwachen würde. Lilias Kopf war leer und sie streichelte nur immer wieder über die Haare ihrer Freundin. Jasper hatte keine Hoffnung. Er wusste, dass es zu spät war. Dass Malea nicht mehr aufwachen würde. Doch das konnte er seinen Freunden nicht sagen. Er traute sich nicht, die Worte auszusprechen. Dann hätte es etwas Endgültiges.

Die Freunde saßen noch fast eine Stunde an Maleas Seite. Tätschelten ihre Hand und hielten sie fest.

Doch dann bestätigte der nun eingetroffene Arzt Jaspers Befürchtung. Malea lag nicht mehr im Koma. Sie war gestorben. Irgendwer hatte sie aus dem Krankenhaus mitgenommen, um sie durch die fehlende medizinische Hilfe ihrem Tod zu überlassen. Irgendwer hatte sie in dieses wunderschöne und zugleich so schreckliche Ballkleid gepackt und die Lampe neben sie ins Moos gestellt.

Jemand hatte eine perfekte Szenerie erschaffen. Eine perfekte Szenerie für ein grausames Verbrechen.

Während ihre Freunde neben ihr zusammenbrachen, hörte Lilia dem Arzt zu, doch sie konnte seine Worte nicht begreifen. Sie wollte sie nicht begreifen. Es fühlte sich so unwirklich an. War sie in einem schlechten Buch? Oder war es doch ein Albtraum, aus dem sie hoffentlich gleich aufwachen würde?

Lilia konnte nicht glauben, dass ihr das gerade wirklich passierte.

Doch das änderte alles nichts daran, dass Malea Verhaag an diesem Abend gestorben war. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt