Szene ②

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Wenige Minuten später klingelte es, und der Klassenraum füllte sich mit Menschen.

Lilia und Benno hatten sich bereits auf ihre Plätze gesetzt und ihre Sachen aus den Ranzen geholt. Sie unterhielten sich noch immer spaßeshalber in Reimen.

„Ist hier noch frei?"

Erschrocken sah Benno sich um. Vertieft in sein Gespräch mit Lilia hatte er gar nicht gemerkt, wie sich ihm eine Person von hinten genähert hatte. Doch nun drehte er sich um und erblickte Suzanne.
„Sue!", rief er glücklich und umarmte seine Freundin. „Klar ist da frei. Setz dich!"

Benno saß zwar mit Lilia an einem Tisch, doch der Nachbarplatz war nicht besetzt. Bisher hatte er sich immer darüber geärgert, dass er Lilia nicht gezwungen hatte, sich weiter nach vorne zu setzen. Denn sie saßen in der letzten Reihe und trotz des perfekten Tratsch-Platzes sprach Lilia während des Unterrichts fast nie. Immer in der Hoffnung, etwas über Charakterbildung oder einen strukturierten Plot zu lernen, lauschte sie dem Lehrer und blockte Unterhaltungen mit Benno fast immer ab. Auch wenn der Lehrer sich noch nie Lilias unausgesprochenen Themenwunsch angenommen hatte, gab diese die Hoffnung nicht auf.

Wenn sie nicht aufpasste, war sie in Gedanken bei ihren Büchern. Ein Notizbuch vor sich liegen, kritzelte sie alles hinein, was ihr gerade so einfiel.

Benno hatte sich deshalb schon oft eine andere Sitznachbarin gewünscht, mit dem er während des Unterrichts reden konnte und nun war Suzanne, wie ein rettender Engel vor ihm aufgetaucht.

Sue sah sich noch etwas schüchtern im Raum um. Sie schien sich nicht wohl in der ungewohnten Umgebung zu fühlen. Schnell machte Benno sie mit Lilia bekannt. „Lil, das ist Suzanne. Sue, das ist Lilia."

„Hi", grüßte die junge Autorin freundlich.

Sue lächelte. „Hallo, ich habe schon viel von dir gehört."

Lilia runzelte die Stirn. „Ist das so? Was hat Benno denn erzählt?" 

„Du bist ein introvertierter Mensch, der aber nicht davor zurückschreckt, in Diskussionen seine Meinung zu verteidigen. Du bist witzig und du magst das Schreiben." 

Lilia lächelte. „Da war Benno aber nett. Ich dachte er sagt so was wie: Sie ist immer mies drauf, eine wahre Pessimistin, isst viel zu viel Eis mit Schokosoße und sie redet nie mit mir im Deutschunterricht."

„Das ist zwar wahr, aber ich wollte Sue nicht abschrecken", lachte Benno. „Außerdem ist Jasper schlimmer als du. In jeder Hinsicht. Außer mit der Schokosoße."

„Stimmt", antwortete Lilia lachend und bemerkte, wie sich Sue unsicher durch die Haare fuhr. Sie schien noch immer unsicher zu sein. Schnell band sie Lilia mit in das Gespräch ein. „Waren deine Freunde in Hamburg auch so spießig optimistisch wie Benno?"

Suzanne kicherte. „Die meisten schon. Aber ich bin da keine Ausnahme. Es wäre doch schrecklich, in allem etwas Negatives zu sehen." 

Benno bestätigte Suzannes Aussage durch ein Nicken. „Da hast du vollkommen recht."

„Genug geredet. Jetzt wird gelesen!", ertönte die laute Stimme des Deutschlehrers, als er den Raum betrat. Er warf seine Tasche aufs Pult und zog sein Buch hervor. „Wir werden, bevor wir die Aufgaben von vorgestern besprechen, die ausgewählte Szene erst einmal gemeinsam lesen. Also, wer möchte?"

Bennos Hand schnellte nach oben. Lilia grinste. Typisch. Benno verdiente sich seine mündlichen Noten nicht durch schlaue Beiträge, sondern durchs Vorlesen und nettes Lächeln. Natürlich hieß das nicht, dass ihr Freund nichts auf dem Kasten hatte. Im Gegenteil. Er war sehr intelligent. Aber Bennos Talente lagen eher in der Musik, sowohl beim Spielen als auch in der Theorie, als beim Gedichte interpretieren.

Auch diese Stunde zeigte er sich von seiner besten Seite und meldete sich ausnahmslos bei jeder Vorlese-Aufgabe. Lilia hingegen versank in ihren Gedanken, die sich um ihre neuste Buchidee drehten. Ihre Fantasy-Welt war so viel spannender als der öde Deutschunterricht. Sie beachtete weder die Dinge, die ihr Lehrer an die Tafel schrieb, noch kümmerte sie sich um die Schüler, die in jeder Stunde scharenweise auf die Toilette gingen. Als dann jedoch die Klingel ertönte, wusste sie nicht, ob sie sich von ihrem Stuhl erheben wollte.

Sie hatte sich doch gerade mitten in einer wichtigen politischen Auseinandersetzung befunden. Natürlich war diese nicht echt, doch Lilia hätte gerne erfahren, wie sie ausging, um den Plot von das Schwert des Schicksals voranzubringen.

„Lilia, komm. Du musst für Physik ins andere Gebäude und wir wollten uns doch mit Fria und Jasper auf dem Schulhof treffen."

„Oh stimmt. Ich komm ja schon." Hastig packte Lilia ihren Kram zusammen, schulterte ihren Rucksack und folgte Benno und Suzanne aus der Klasse.

Sie liefen durch den Schulflur, an dessen Wände mehr oder weniger schöne Kunstwerke der Schüler aushingen. Bei vielen der Bilder hatte es Lilia aufgegeben, nach dem Sinn zu suchen. Gemeinsam mit Malea hatte sie schon unzählige Male versucht, die Werke zu analysieren und während Malea voll in dem Prozess aufgegangen war, hatte Lilia nach kurzer Zeit aufgegeben.

Ein paar von Maleas Bildern hingen auch an der Wand. Auf einer Fotografie zum Thema Märchen wurde Lilia von ihrer Freundin als Rotkäppchen im Winterwald abgelichtet und ein Selbstporträt mit Wachsmalstiften hatte Malea auch gemalt.

Lilia wäre gerne in einen Seitengang abgebogen, nur um das Bild zu betrachten. Da waren Maleas schöne, blaue Augen noch geöffnet gewesen ...

„Was ist denn hier los?" Bennos Frage riss Lilia aus ihren Gedanken. Vor ihnen hatte sich eine Traube aus Schülern gebildet, die alle an die Wand starrten. Es war ein Fleck, an dem ausnahmsweise mal keine Bilder hingen. Normalerweise war die Wand steril weiß.

Doch nun war etwas angeschrieben worden. Lilia konnte erst erkennen, was es war, als sie ein bisschen zentraler standen.

Die Botschaft war in Rot geschrieben. Es sah fast aus wie Blut und lief in schleimigen Spuren die Wand nach unten.

Lanis Blut ist euer Blut

„Oh Gott!", stieß Suzanne hervor. Benno war kreidebleich.

Lilias Gedanken rasten. Wer hatte das hier hingeschrieben? Und wann? Als sie in die Schule kamen, stand das doch noch nicht dort. Oder? Was hatte das ...

In dieser Sekunde ertönte, wie schon am Vortag, die Stimme des Schulleiters durch die Lautsprecher. „Liebe Schüler:innen, ich möchte sie bitten, jetzt das Gebäude zu verlassen. Die Lehrer:innen werden sie nachher mit Aufgaben versorgen."

Lilia folgte ihren Mitschülern nach draußen, die plötzlich alle schnell das Gebäude verlassen hatten. Auf dem Hof begegnete sie der Polizei. Sie grüßte Jaspers Vater, berichtete ihren Freunden von dem Vorfall und ging dann in Gedanken versunken nach Hause. Langsam wurde ihr alles zu viel. Lanis Tod wollte einfach nicht in Vergessenheit geraten.

Und währenddessen rückte Maleas Unfall immer weiter in die Ferne. Sie war schon wochenlang im Koma und noch zeigte sich keine Besserung. Lilia fragte sich, ob ihre Freunde je wieder aufwachen würde. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt