Szene ②

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Nach der Schule ging Lilia nach Hause. Sie wohnte auf einem kleinen Bauernhof, etwas entfernt vom Ortskern und verbrachte hier ihre Zeit mit den Tieren und ihren Geschichten. Ihre Familie lebte schon seit unzähligen Generationen in dem kleinen Ort Jesingen und Lilia hatte nicht vor, diese Tradition zu brechen. Dafür liebte sie ihre Heimat zu sehr.

Gerade lief sie an der Litfaßsäule vorbei, welche die neusten Feste, Veranstaltungen und Nachrichten der Gegend verkündete. Lilia warf einen schnellen Blick auf die Plakate und stellte fest, dass sie die meisten schon kannte. So viel passierte hier nicht, als dass man sie andauernd austauschen müsste.

Ein roter Zettel erregte dann aber doch ihre Aufmerksamkeit. Der war letzte Woche definitiv noch nicht dagewesen. Lilia erstarrte, als sie die Nachricht las.

„Vermisst" stand ganz groß auf dem Blatt.

Seit gestern ist meine Liebste Lani verschwunden. Bitte helft mir! 

Darunter waren eine kurze Beschreibung und eine Telefonnummer abgebildet. Ein Bild gab es nicht.

Lilia nahm an, dass das Plakat von einem Angehörigen ausgehängt worden war. Vielleicht von der Großmutter? Immerhin wurde Lani als „meine Liebste" betitelt.

Sie wunderte es nur, dass auch hier Lanis Nachname nicht auftauchte. Ein Angehöriger wüsste wohl, wie sie hieß. Das war merkwürdig.

Schnell speicherte Lilia die Telefonnummer in ihren Handy-Notizen. Wenn sie Lani wiederfand, wüsste sie jetzt immerhin, wo sie sich melden könnte. Mehr konnte sie jetzt nicht tun.

„Hallo Lilia!" Eine bekannte Stimme riss das Mädchen aus ihren Überlegungen. Sie drehte sich um.

„Hi Dorothea", begrüßte sie Maleas Mutter. Die beiden kannten sich schon ewig, weshalb sie sich mit dem Vornamen ansprachen. Lilia hatte auch gerade viel Kontakt zu ihr, da sie oft zusammen ins Krankenhaus gingen.

Dorothea kam zu ihr gelaufen und sah auf das rote Plakat. Die riesigen schwarzen Buchstaben stachen einfach aus der Menge hervor. „Ich hab schon davon gehört. Schrecklich. Das Kind kann doch nicht einfach verschwinden. Ich dachte, dieser Ort könnte seine Schreckgespenster endlich hinter sich lassen." Traurig strich sie sich durch die roten Locken.

„Was meinst du damit?" Lilias Neugierde war sofort geweckt.

Dorothea sah sie schuldig an. „Sagen wir es so, Lani ist nicht das erste Kind, was hier entführt wurde."
„Es ist schon mal jemand verschwunden?"

Maleas Mutter nickte langsam. „Vor ungefähr fünfzehn Jahren. Zwei Babys sind in einer Nacht entführt worden. Bis heute hat sie keiner gefunden."

Lilia lief ein Schauer über den Rücken. Davon hatte sie noch nie gehört. „Warum kenne ich die Geschichte nicht?"

„Denkst du, die Einwohner sind stolz darauf? Nein, wir versuchen es zu vergessen. Wir träumen, um der Realität nicht ins Auge zu blicken."

„Nennt man den Wald deshalb die träumenden Wälder?"

Wieder nickte Dorothea. Lilia musste schlucken. Das klang alles sehr beunruhigend. Sie musste wohl oder übel mal mit ihren Eltern darüber sprechen. Sie verstand nicht, warum keiner von ihnen je darüber gesprochen hatte.

„Es tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen." Maleas Mutter nahm die Gänsehaut auf Lilias Armen war, die sich trotz der angenehmen Temperaturen gebildet hatte.

„Schon ok. Danke." Lilia lächelte. „Weißt du noch mehr darüber?"

„Leider nicht. Außerdem muss ich jetzt langsam los." Dorothea sah auf ihre goldene Armbanduhr. Sie trug sie schon, seit Lilia denken könnte. „Ich werde nach Malea sehen. Die Ärzte wollten sich heute nochmal mit mir beraten."

„Okay. Viel Glück."

„Danke", verabschiedete sich Dorothea und ging in Richtung Krankenhaus davon. Lilia setzte ihren Weg nach Hause fort.

Im Bauernhaus angekommen, zog sie die Schuhe aus und begrüßte die beiden Katzen, die verträumt auf ihrem Kratzbaum lagen. Sie setzte sich neben sie auf den Teppichboden und ließ ihre Finger durch das flauschige Fell gleiten.

Das Gespräch mit Dorothea ließ sie noch immer nicht los. Es waren schon einmal zwei Kinder entführt worden?

Diese neue Information musste sie unbedingt mit ihren Freunden teilen. Vielleicht wären sie ja dieses Mal überzeugt davon, wenn Lilia eine mögliche Verbindung ansprach.

„Lilia komm. Es gibt Essen!"

Die junge Frau lächelte schwach. Benno, Jasper und Fria ihre neuen Informationen mitzuteilen, musste wohl noch warten. Essen war jetzt erst einmal wichtiger. Also sprintete Lilia in den kleinen Wintergarten, an dessen Tisch bereits ihre ganze Familie Platz genommen hatte. Ihre Eltern und Großeltern sahen lächelnd zu ihr auf und Hofhund Socke kam schwanzwedelnd auf seine Besitzerin zu. Nur Katze Nummer 3, welche den Namen Hailey trug, blieb auf ihrem Platz am Fenster sitzen.

„Sorry, dass ich zu spät bin, aber Dorothea hat mich aufgehalten."

„Kein Problem Liebes. Wir haben noch nicht angefangen." Behutsam strich ihre Mutter über ihren Kopf, als sie sich langsam neben ihr niederließ.

„Oh, wie geht es Dorothea denn? Ich kann ihr gerne mal unter die Arme greifen. Denkst du, sie würde das wollen? Nach all dem, was passiert ist." Lilias Oma biss in ihre erste Kartoffel und sah sie fragend an.

Lilia nahm sich Zeit, um kurz darüber nachzudenken. Dorotheas Leben hatte sich bereits vor zehn Jahren von einem familiären Wohlfühlen in einen Albtraum verwandelt. Sie war gemeinsam mit Malea, Maleas kleinen Schwester Larissa und ihrem Mann ans Meer gefahren. Nach einigen schönen Tagen am Strand erhielt Lilias Familie plötzlich einen Anruf. Maleas Vater und Larissa seien gestorben. Hans Verhaag habe sich, mit der Tochter in den Armen, ins Meer gestürzt und sie seien nicht mehr aufgetaucht. Zumindest ging die Polizei davon aus. Warum Hans das getan haben sollte, war Lilia unklar. Er hatte immer wie ein lebensfroher, positiver Mensch gewirkt.

Mehrere Tage lang wurde versucht, wenigstens die Leichen zu bergen, aber irgendwann hatte die Küstenrettung aufgeben. Laut Berechnungen waren die Körper konnte bereits sonst wohin getrieben.

Als Malea nach ihrem Urlaub zurückkam, hatte Lilia viel Zeit mit ihr verbracht und ihr Trost gespendet, da ihre Freundin sich nicht einmal von ihrem Vater und ihrer Baby-Schwester hatte verabschieden dürfen. Diese Zeit hatte die beiden noch enger zusammengeschweißt.

Lilia fühlte sich verpflichtet, Dorothea bei ihrem zweiten Schicksalsschlag zur Seite zu stehen. Es war grausam, dass nach dem Tod ihres Mannes und ihres Kindes nun auch das Leben ihrer Tochter am seidenen Faden hing.

Lilia fiel auf, dass sie noch immer nicht auf die Frage ihrer Großmutter geantwortet hatte. Schnell versprach sie: „Ich werde Dorothea ausrichten, dass du deine Hilfe anbietest, aber ich glaube, sie mag die Ablenkung. Wenn sie im Haushalt arbeitet oder ihrem Beruf nachgeht, muss sie nicht an Malea denken." 

„Das ist verständlich." Ihre Oma schenkte ihr ein Lächeln. „Und wie geht es dir damit?"

Lilia schluckte. Diese Frage wurde ihr jeden Tag gestellt. Und nie wusste sie, was sie darauf antworten sollte.

Natürlich war es schwer, nicht mit Malea sprechen zu können. Sie nicht umarmen zu können. Sie nicht nach Rat fragen zu können. Und kein verstreichender Tag machte es leichter. Aber Lilia versuchte sich abzulenken und die neusten Ereignisse halfen ihr dabei.

Sie hatte endlich eine Mission. Eine Aufgabe, an die sie sich klammern konnte.

Was war mit Lani passiert? 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt