Szene ①

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Es war Dienstag am frühen Morgen und die Freunde hatten sich gerade vor der Schule eingefunden. Fria, Benno und Lilia blickten alle sehr verschlafen drein. Jasper hatte zusätzlich noch immer dunkle Ringe unter den Augen. Nachdem er Dorothea und seinen Vater gestern Abend belauscht hatte, hatte er kein Auge mehr zu tun können. Immer wieder hatte er über die gesprochenen Worte nachgedacht, doch sie ergaben einfach keinen Sinn. Warum sollte Dorothea ihre Tochter gesehen haben? Malea lag im Koma.
Jasper war sich unsicher, ob er seine gestrige Beobachtung mit seinen Freunden teilen sollte. Sie hatten alle genug Sorgen, er wollte ihnen nicht noch einen Grund zum Grübeln liefern. Andererseits brannte es ihm auf der Zunge, mit ihnen über seine Vermutungen zu diskutieren.

„Wie geht es euch heute?", fragte Fria gähnend. Sie hatte ihre Schultasche abgenommen, um das Säckchen gerösteter Sonnenblumenkerne entgegenzunehmen, was Lilia ihr entgegenstreckte. Auch Jasper und Benno hatten ihren Anteil aus der Ernte der Hohns erhalten. Jedes Jahr freuten sie sich über die leckeren Kerne, die Lilias Großmutter zubereitete.

„Mir geht's ganz gut." Benno gähnte ebenfalls, doch er lächelte. Womöglich war er in seinen Gedanken immer noch bei dem Mädchen von gestern.

„Hat das mit Sue zu tun?", bohrte Fria auch sofort nach. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein wissendes Lächeln aus.

Bennos Antwort folgte viel zu schnell. „Nein!"

„Oh Mann, dein Ernst?" Jasper lachte nur über diesen Verteidigungsversuch. Fria hatte ihn auf frischer Tat ertappt.

Noch bevor Benno versuchen konnte, sich erneut herauszureden, ergriff Lilia das Wort. „Hat noch jemand etwas von gestern zu berichten?" Sie lehnte an der Außenfassade der Schule und, die blonden Haare hatte der Wind in ihr Gesicht geweht. Immer wieder versuchte sie, sich aus dem Netz von Haaren zu befreien, doch gegen die Natur kommt man bekanntlich nicht an.

„Willst du etwa nichts über Bennos neue Freundin wissen, Lilia?" Offensichtlich war Fria ein Themenwechsel zuwider. Sie interessierte sich für die neue Bekanntschaft.

Lilia seufzte. „Ich glaube, wir haben genug gehört."

„Vielen Dank." Benno nickte zustimmend. „Siehst du Fria? Das nennt man eine rücksichtsvolle Freundin."
„Das nennt man langweilig!" Fria streckte allen die Zunge heraus.

Lilia seufzte wieder. „Mir geht es doch gar nicht um Suzanne. Sie scheint nett zu sein." Dann grinste sie und formte mit ihren Händen ein Hashtag. „Ich shippe #Sunno."

Fria strahlte. „Ok, hab's mir anders überlegt. Lilia, du bist cool."

„Könnt ihr bitte mit diesem blöden Kombi-Namen aufhören?" Jasper verdrehte die Augen. Das Gesprächsthema ging in eine für ihn ganz unangenehme Richtung und es erinnerte ihn nur wieder an seine gestrigen Gedanken. Seine Ansichten hinsichtlich der Liebe waren speziell und noch traute er sich nicht, dass vor seinen Freunden anzusprechen.

Jasper seufzte. Hätte er doch lieber über Dorothea berichtet, denn bei Frias Flirthilfen, die sie gerade mal wieder zum Besten gab, kam nie sonderlich viel bei rum. Sie hatte doch selbst keine Erfahrung. 

„Der Name ist wichtig!", protestierte die junge Filmemacherin gerade lautstark. „Und außerdem gibt es Schlimmeres als eine Freundin, die sich für das Glück ihres besten Freundes einsetzt." Sie stupste Benno an, was diesen sofort seinen Protest aufgeben ließ. Warum war er nur so verständnisvoll und so leicht reinzulegen? Es war doch klar, dass Fria bei ihren Befragungen über Suzanne nur neugierig war. Niemals würde sie es wirklich schaffen, Benno zu helfen. Fria beherrschte das Flirten auch nur in der Theorie, sonst hätte es mit ihr und einem der unzähligen Jungs, in die sie schon verliebt gewesen war, auch mal geklappt. Das war zumindest Jaspers Meinung.

„Können wir jetzt bitte wieder zurück zum Thema kommen?" Lilia sah noch immer fragend zu ihren Freunden. Völlig in ihr Gespräch vertieft, hatten sie alle ihre Frage vergessen.

„Sorry", entschuldigte sich Fria sofort. „Was hattest du gefragt?"

„Ob noch jemand was Wichtiges rausgefunden hat."

Alle schwiegen. Fria und Benno, da sie keine Informationen liefern konnten, und Jasper, weil er mit sich rang. Sollte er den anderen von Dorotheas Besuch erzählen? Er wollte ihre Privatsphäre nicht missachten. Immerhin hatte er die Informationen nur durch das Spionieren erhalten. Doch vielleicht könnten die anderen etwas mit dieser Information anfangen.

Lilia nutzte die Pause und ergriff das Wort. „Dann erzähle ich euch jetzt was."

Alle sahen sie gespannt an. Damit, dass ausgerechnet Lilia Informationen liefern konnte, hatte keiner gerechnet. Da sie den ganzen Tag nur in ihrem Zimmer saß, bekam sie sonst nie etwas vom Klatsch und Tratsch in Jesingen mit.

„Dann schieß los", forderte Benno gespannt.

„Ich habe gestern Dorothea getroffen." Jasper hielt die Luft an. Lilia hatte sie auch gesehen? Hatte Maleas Mutter ihr vielleicht sogar das Gleiche erzählt, wie seinem Vater? Dann müsste er es gleich nicht tun.

„Dorothea hat mir davon erzählt, dass in Jesingen bereits zwei andere Kinder verschwunden sind. Es ist schon ein paar Jahre her, noch vor unserer Geburt." Sie holte tief Luft. Ihre Freunde hingen an ihren Lippen. „Ich habe im Internet nachgeforscht und bin auf ein paar alte Zeitungsartikel aus dem Jahr 2000 gestoßen." Sie zog zwei ausgedruckte Blätter aus ihrem Ranzen und hielt sie ihren Freunden hin. Fria nahm sie neugierig. 

„Celine Rehberg und Martha Kiesbauer sind in ihrer Geburtsnacht aus dem Krankenhaus verschwunden. Bis heute sind sie nicht wieder aufgetaucht."

Benno sog scharf die Luft ein. „Autsch. Warum wussten wir das nicht?"

Lilia erklärte: „Dorothea meinte, Jesingen möchte die Tat verdrängen. Die Kinder sind verschwunden, und sofort hat sich der Wald schlafen gelegt, um sie zu vergessen." 

„Das ist grausam." Fria legte ihre Arme um sich. Ihr war plötzlich unendlich kalt.

„Und du denkst, die zwei Kinder stehen im Zusammenhang zu Lanis Verschwinden?" Jasper versuchte herauszufinden, auf was Lilia hinauswollte.

Sie nickte. „Das nehme ich an. Immerhin konnten Celine und Martha nicht ohne fremde Hilfe das Krankenhaus verlassen. Sie waren ja nicht mal einen Tag alt. Und der Täter wurde nie gefasst."

„Ich will nicht in so ein Mörder-Mystery verwickelt werden." Fria sah wirklich alles andere als glücklich aus. „Können wir jetzt bitte endlich das Thema wechseln?"

Lilia nahm Fria die Blätter ab und gab sie an Benno weiter. „Tut mir leid Fria, aber ich empfand es als wichtig, euch darüber zu berichten."

Ihre Freundin seufzte. „Das verstehe ich. Aber jetzt reicht es."
Jasper grinste neckend. Er schien den Ernst der Lage noch nicht zu verstehen. „Aber es wurde doch gerade spannend! Ich hatte eigentlich erwartet, dass Lilia uns gleich von gefundenen Körperteilen berichtet."

„Jasper bitte! Nur weil wir jetzt eine Vermutung haben, wie Lani verschwunden ist, heißt das nicht, dass es irgendeine Spur zu verfolgen gibt. Oder kannst du mir einen Namen oder ein Motiv nennen?"

Beleidigt schwieg Jasper. Das war Antwort genug.

Es klingelte und Lilia gab ihren Platz an der Wand auf. „Also gut, lasst uns reingehen."

Erleichtert machte sich Fria sofort auf den Weg, indem sie sich bei Lilia unterharkte und in großen Schritten davoneilte.

Benno sah Jasper an. „Na los. Hinterher. Du solltest dich entschuldigen." 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt