Szene ④

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Lilia musste bereits wenige Stunden später ihr Versprechen brechen. Die neusten Ereignisse flogen ziellos in ihrem Kopf herum und sie wusste, dass sie mit jemandem darüber reden musste. Also hatte sie kurzerhand beschlossen, nach Malea zu sehen.

Eigentlich sollte sie ein schlechtes Gewissen haben und vielleicht auch ein klein wenig Angst, da sie die Abmachung mit ihren Freunden brach. Doch Lilia war zu aufgeregt, um an Konsequenzen zu denken.

Der Weg zum Krankenhaus führte durch den Ortskern. Er konnte gar nicht gefährlich sein. Sie würde die ganze Zeit von Menschen umgeben sein. Und außerdem war es mitten am Tag. Sie hatte also nichts zu befürchten.

Lilia hatte ein komisches Gefühl, als sie das Krankenhaus betrat. Bis vor Maleas Einweisung vor ein paar Monaten, hatte sie nie ein Krankenhaus betreten müssen. Nur zu ihrer Geburt war sie in einem gewesen, aber daran konnte sie sich ja nicht mehr erinnern. Den Rest ihres Lebens hatte sie Glück gehabt, denn sowohl ihr als auch ihrer Familie, war ein Aufenthalt im Krankenhaus erspart geblieben.

„Ich würde gerne zu Malea Verhaag", meldete sie sich an der Rezeption. Der Mann am Schalter kannte sie bereits und nickte ihr nur zu.

Lilias Weg ging ein paar Stockwerke nach oben und ihre Hände begannen zu kribbeln. Es war schon wieder viel zu viel Zeit vergangen, seit sie Malea das letzte Mal gesehen hatte. Eigentlich war es erst gestern gewesen, aber durch die Geschehnisse der letzten Tage, hatte Lilia schon wieder so viel zu berichten, wie es sonst in einer Woche der Fall war.

Das blonde Mädchen lief an vielen Räumen vorbei, nahm Geräusche und Gerüche war, die sowohl Leben als auch Tod bedeuteten. Doch sie blendete alles aus. Sie hatte die letzten Tage genug Leid erlebt. Jetzt zählte nur Malea.

Endlich stand sie vor der Tür, die sie von ihrer Freundin trennte, und mit einem Ruck zog sie sie auf. „Hi Malea, ich hab ..." Der Satz blieb ihr im Hals stecken.

Lilia brauchte ein paar Sekunden, bis sich das Bild, was sich ihr bot, in ihrem Kopf zu einer Gewissheit geformt hatte.

Maleas Bett war leer.

„Nein!", schluchzte Lilia atemlos und sackte in sich zusammen. Auf dem Boden kauernd rang sie nach Atem.

Das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Das war ...

„Kann ich dir helfen?", fragte eine freundliche Stimme, die Lilia kaum wahrnahm.

Es schien eine Krankenpflegerin zu sein. Sie kniete sich neben das Mädchen auf dem Boden und versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen.

„Nein", schluchzte Lilia.
„Aber was machst du dann hier?" Die Frau half Lilia beim Aufstehen und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

„Ich wollte nach meiner Freundin sehen", brachte Lilia hervor. Ihr Weinen hatte etwas Endgültiges. Es waren keine kleinen Tränen, die langsam die Wangen hinabkrochen. Lilia heulte Rotz und Wasser.
Die Krankenschwester hielt weiterhin ihre Hand. Sie verstand noch immer nicht recht, was ihr Problem war. „Ok, aber wo ist deine Freundin?"

Lilia zuckte zusammen. Mit Tränen in den Augen deutete sie auf das Bett. „Malea ist weg!"

„Weg? Du meinst deine Freundin war hier im Krankenhaus untergebracht." 

Lilia nickte unsicher. Sie vertraute ihrem zitternden Körper gerade nicht. Ans Aufstehen war gar nicht zu denken. „Sie lag im Koma."
„Aber das kann nicht sein. Eine Koma-Patientin kann nicht einfach aufstehen und gehen." Die Schwester trat an das leere Bett und sah sich die Dinge an, die auf dem Nachttisch standen. Blumen, Kerzen, Karten. Sie wusste, dass Lilia sie nicht anlog. Malea war hier gewesen. Zumindest bis vor kurzem.

Lilia konnte nicht bleiben. Sie wollte nicht an dem Bett im Krankenhaus um Malea trauern, wenn sie ihr vielleicht noch helfen konnte.

Malea war sicher nicht einfach aus dem Koma erwacht und gegangen. Sie war entführt worden! Und der Killer musste irgendwo da draußen mit ihr sein!

Noch immer zitternd kramte Lilia ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte die Rundrufnummer des Gruppenchats mit ihren Freunden. Jasper nahm als Erster ab. „Lilia, was ist los?"
„Malea ist verschwunden! Wir müssen sie suchen! Sofort!", weinte Lilia.

„Was?" Auch Benno hatte sich dazu geschaltet und konnte seinen Ohren nicht trauen. „Malea ist ... was?"

Jasper zeigte es nicht oft, wenn er nervös oder aufgeregt war. Doch nun war auch ihm nicht zu helfen. Seine Stimme zitterte. „Ich bin sofort da. Warte auf mich Lilia." 

„Bist du beim Krankenhaus?" Das war Fria. Sie schien, während sie redete, zu rennen. Wahrscheinlich war sie schon auf dem Weg.

„Ja. Ich werde davor auf euch warten." Lilia legte auf und machte sich auf den Weg. Die Krankenschwester war mittlerweile verschwunden und hatte bestimmt weiteres Personal verständigt. Sicher würden sie auch die Polizei kontaktieren, sodass Lilia das nicht übernehmen musste. Auch wenn sie eben besprochen hatten, heute nicht mehr nach draußen, und vor allem in den Wald zu gehen.

Für sie zählte jetzt nur eins:

Malea zu finden.

Und zwar lebend! 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt