Wenige Minuten zuvor war Jasper auf dem Weg zu Lani gewesen. Er hatte dem kleinen Mädchen versprochen, im Krankenhaus nach ihr zu sehen.
Nachdem er sich gestern Nacht von seinen Freunden verabschiedet hatte, waren Jasper und Lani zu ihm nach Hause gegangen. Er hatte seinen Vater aufgeweckt und die beiden miteinander bekannt gemacht. Dieser war erstaunt gewesen, doch schnell hatte er den verängstigten Gast akzeptiert und ihr seine Hilfe angeboten.
Lani hatte die ganze Zeit noch immer wie besessen ausgesehen. Sie hatte plötzlich ins Nichts gestarrt, nicht gelacht und ausschließlich von ihrer Großmutter gesprochen. Das Verhalten des kleinen Mädchens machte Jasper Angst. So etwas kannte er eigentlich nur aus Horrorfilmen. Auch wenn er jetzt daran zurückdachte, stellten sich ihm die kleinen Härchen am Nacken auf.
Nach wenigen Fragen war Jim ebenfalls bewusst geworden, dass mit Lani etwas nicht stimmte. Sofort waren die drei zur Polizeiwache aufgebrochen, wo Jim als Polizist arbeitete. Sie waren in der Nacht von Samstag auf Sonntag nicht wirklich breit besetzt, doch der zuständige Beamte und Jim hatten sich dafür ausgesprochen, dass es am besten wäre, Lani sofort ins Krankenhaus zu bringen und eine Anzeige ins Fernsehen schalten zu lassen, mit der nach Angehörigen der Kleinen gesucht werden konnte. Denn Lani wollte noch immer nicht verraten, wo oder wer ihre Eltern waren. Sie erwähnte nur immer wieder, dass sie ihre Großmutter gesucht hatte.
Außerdem zeichnete sich langsam eine Erkältung von der kühlen Nachtluft gestern ab. Lani nießte auffällig oft, ihr war ständig kalt und sie zitterte. Vielleicht könnte es sich auch zu etwas Schlimmerem, wie einer Lungenentzündung, entwickeln. Die zuständige Ärztin war auf jeden Fall froh gewesen, dass sie das Mädchen hergebracht hatten.
Jasper war dabei gewesen, als sein Vater Lani, eingewickelt in eine Decke, ins Krankenhaus gefahren hatte. Sie hatten ihr ein paar Dinge von zu Hause mitgegeben, wie Zahnbürste, Kamm und alte Klamotten von Jasper, mit denen sie hoffentlich erst einmal auskommen würde. Jasper hatte seinem Vater und seinen Freunden versichert, dass er heute Abend nochmal nach der Kleinen sehen würde. Auch wenn der Gedanke an sie alle Alarmglocken bei ihm angehen ließ. Irgendwas war seltsam an der Situation.
Von Lanis Familie hatte sich erstaunlicherweise noch immer keiner bei der Polizei gemeldet oder selbst eine Vermisstenanzeige abgegeben. Machten sich ihre Eltern keine Sorgen? Oder, wenn es diese wirklich nicht gab, die Großmutter?
Jasper ging diesen Gedanken nach, um sich davon abzulenken, wo er gerade war. Er stand am Eingang des Krankenhauses und blickte unsicher in die Eingangshalle hinein. Er war kein Fan von Krankenhäusern. Sie weckten zu viele Erinnerungen in ihm.
Er wusste, dass sich die bewusstlose Malea hier auch irgendwo befand und auch wenn es Jahre her war, musste er wieder an seine Mutter denken. Diese war im Krankenhaus gestorben, als er fünf Jahre alt gewesen war. Jasper konnte sich nicht mehr an viel aus dieser Zeit erinnern, doch die steril weißen Krankenhausgänge im Zusammenhang mit lauten Tönen aus riesigen Maschinen, an die seine Mutter angeschlossen gewesen war, bereiteten ihm noch heute eine Gänsehaut.
Noch einmal holte er tief Luft, bevor er sich wagte, in Jesingens Krankenhaus zu treten. Es war schlimm. Von überall her nahm er Gemurmel und Geschrei war. Um ihn herum befanden sich um das Leben kämpfende Menschen und Angehörige, die bereits aufgegeben hatten. Jasper wollte hier weg!
Doch er blieb, da er es Lani schuldig war.
Jesingens Krankenhaus war schon immer überfüllt gewesen. Da es, wie auch die Schule, die Verantwortung für alle kleineren Nebenorte übernahm, trafen viel zu viele Menschen auf viel zu wenig Fläche.
Wenn Jasper nicht so eine große Abneigung gegenüber Blut hätte, wäre er selbst gerne Arzt geworden, um anderen Menschen zu helfen. Doch so mussten es seine, momentan noch wenig einsatzfähigen, Erfindungen tun.
„Wie kann ich ihnen helfen?", fragte die übermüdet aussehende Frau am Empfang. In ihren Augen konnte man den Wunsch nach Ruhe ablesen. Gut, vielleicht waren es auch die dunklen Augenringe, die sie verrieten.
„Ich würde gerne der Bewohnerin aus Zimmer 31 einen Besuch abstatten. Lani." Jasper zwang sich zu einem Lächeln. Er wusste nicht, wie die Frau vor ihm reagieren würde und wie viel sie wusste. Sollte sie nicht verstehen, warum die eingetragene Patientin keinen Nachnamen hatte, oder ihn aus anderen Gründen nicht zu ihr lassen, hatte er ein unterzeichnetes Blatt seines Vaters dabei. Die Polizei hatte ihm die Zulassung erteilt, da Lani sich in Jaspers Gegenwart wohlzufühlen schien.
Die Frau schien sich jedoch nicht an der unvollständigen Patientenakte zu stören. Wahrscheinlich war sie dafür auch zu müde. „Du darfst zu ihr. Findest du den Weg?"
„Ja, ich war vorhin schon mal hier. Vielen Dank."
Jasper lächelte noch immer aufgesetzt, als er den Weg durch seine persönliche Hölle fortsetzte. Er versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken, doch immer wieder holten ihn seine Gedanken und Erinnerungen an seine Mutter und Malea ein.
Kurz bevor er Lanis Tür öffnete, erschien der Arzt in seinen Gedanken, der seinem Vater und ihm mitgeteilt hatte, dass seine Mutter leider während einer Operation verstorben sei.
Jasper seufzte, als er die Tür schlussendlich öffnete. Jetzt musste er seine Erinnerungen beiseiteschieben und sich auf Lani konzentrieren. Er konnte ihr nicht mit einem zerstörten Gesichtsausdruck begegnen. Sie hatte so viel durchgemacht, er musste stark für die Kleine wirken. Er musste ihr weismachen, dass bei ihm alles in Ordnung war, damit es ihr bald wieder besser ging.
Mit einem einstudierten Lächeln, welches Jasper auch zu oft für seine Mitschüler aufsetzte, zog er die Tür auf und trat einen Schritt in den Raum.
„Hey Lani", begrüßte er seine neue Freundin. Er trat ein paar Schritte an ihr Bett und stockte.
Jaspers Blick fiel auf das geöffnete Fenster, die Gardine wehte im leichten Wind. Er sah direkt hinaus in den kleinen Park hinter dem Krankenhaus, den es sich mit der angrenzenden Psychiatrie teilte. Das Zimmer lag im Erdgeschoss und gab einen guten Blick auf die, von Laternen beleuchteten, Wege und Bäume frei. Immerhin dieser Teil des Krankenhauses war schön.
Doch Jasper konnte sich nicht vom Anblick täuschen lassen, denn etwas stimmte gerade ganz gewaltig nicht. Sein Puls ging schneller und seine Ohren begannen zu rauschen. Am liebsten hätte er gar nichts mehr wahrgenommen.
Sein Blick glitt wieder auf das Bett und er musste sich nun erneut dem stellen, von dem er gehofft hatte, es sich eingebildet zu haben. Die Hoffnung, dass sein Körper völlig unbegründet verrückt spielte, starb aber schnell wieder.
Denn leider waren Jaspers Augen noch in Takt und bildeten ihm die erschreckende Realität ab.
Das Bett war leer.
Lani war weg.
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Folge Eins ist hiermit abgeschlossen. Lasst mich gerne wissen, wie euer bisherige Eindruck ist. :)
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Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)
Mystery / ThrillerWas flüstern die Wälder? Bisher konnten sich die Freunde Jasper, Fria, Lilia und Benno immer aufeinander verlassen. Das alte Baumhaus, was seit ihren Kindertagen in den träumenden Wäldern steht, ist ihr Zufluchtsort. Doch eines Tages verschwindet i...