Szene ⑤

34 8 10
                                    


Trotz Angst vor einem Mörder hatten sich die Freunde am Freitagabend im Wald getroffen. Nachdem sich Fria getraut hatte, ihre Freunde auf die Trauerfeier anzusprechen, war aus der Idee ein Treffen geworden.

Ihre Eltern waren allesamt nicht begeistert gewesen. In kurzer Zeit waren in diesem Wald zwei Mädchen ermordet worden. Doch nachdem Jaspers Vater sich dazu bereiterklärt hatte, neben der Lichtung Wache zu stehen, kamen keine Einwände mehr.

Wer konnte die Kinder besser beschützen als ein Polizist? Angst hatten die Eltern trotzdem noch.

Natürlich war es verständlich, dass sie sich Sorgen machten, doch sie vergaßen bei all ihrer Hysterie, dass Hans seine beiden Töchter getötet hatte, keine Freunde von ihnen. Es ging bei den Morden anscheinend um ein familiäres Problem, in welches die Freunde nicht involviert waren. Deshalb war die Sorge unbegründet. Hoffentlich.

Gemeinsam hatten sich die Freunde an diesem Freitagabend auf einen Baumstamm unter dem Baumhaus gesetzt und in warme Decken gekuschelt.

Jim sah man nur noch aus der Ferne. Jasper winkte ihm einmal zu, bevor Fria mit dem Programm begann. Sein Vater antwortete mit einem Nicken. Die Pistole saß in ihrer Halterung am Gürtel. Das heutige Zeichen für Sicherheit.

Irgendwie war die Stimmung im Wald merkwürdig. Als würden sich auch die Tiere nach den Morden nicht mehr aus ihren Verstecken trauen. All die Eichhörnchen, Singvögel und Käfer, die ihnen sonst immer begegneten, blieben heute verschollen. Irgendetwas lief hier ganz gewaltig schief. Die träumenden Wälder sollten ein Ort voll Geborgenheit, Liebe und wunderschöner Natur sein. Nun waren sie nur noch ein Ort zum Gruseln, der mit erschreckenden Bildern deutschlandweit in der Tagesschau ausgestrahlt wurde.

„Schön, dass ihr gekommen seid", begann Fria mit ihrer Trauerfeier. Sie hatte sich keinen Text zurechtgelegt, es sollte nicht sonderlich förmlich werden. Ein Programm gab es auch nur provisorisch.

„Ich dachte mir, vielleicht erzählt einfach mal jeder als erstes, was er am meisten an Malea vermissen wird." Während Fria dies sagte, zündete sie eine Kerze an und stellte sie auf den Baumstumpf vor den Freunden ab. Sie hatten damals gemeinsam diesen Baum gefällt, da er direkt durch das Baumhaus gelaufen wäre.

Nun diente er als Ablage für die Kerzen, die Fria der Reihe nach entzündet hatte.

Benno ergriff als Erster das Wort. Es war typisch für ihn, dass er seine Sorgen und Probleme offen ansprach. Bereits während der ersten Worte sah man, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Malea war mein Sonnenschein gewesen. Wenn man übermüdet in der Schule ankam, leuchteten ihre roten Locken mit ihren braunen Augen um die Wette. Wir waren morgens immer alle mies drauf, aber Malea war bereits beim Sonnenaufgang hellwach und gut gelaunt gewesen."

Alle nickten und lächelten über Bennos Erzählung. Es tat zum einen sehr gut, darüber zu sprechen. Aber es schmerzte auch unglaublich. Niemals wieder würde Malea ihnen den Morgen versüßen.

„Ich werde es vermissen, mit Malea und meinen Brüdern Monopoly zu spielen", erzählte Fria. „Sie war die Meisterin. Mit mir spielen meine Brüder nicht gerne. Ich verliere immer schon nach wenigen Minuten."

Wieder nickten alle. Niemals wieder würde Malea Fria und ihre Brüder im Monopoly besiegen.

Kurz herrschte Stille und Fria schloss die Augen, um sich ganz der Atmosphäre des Waldes hinzugeben. Nach den Mordfällen waren die Freunde kaum noch hier gewesen und sie vermisste die unbeschwerten Abende im Baumhaus.

Jasper räusperte sich unsicher. „Ich werde vermissen, wie laut Malea bei Schulveranstaltungen geklatscht hat. Egal ob Benno ein Lied, Fria ein Video oder ich ein Wissenschaftsprojekt vorgetragen habe, Malea stand immer als Erste auf, pfiff leidenschaftlich und klatschte laut."

„Stimmt." Fria lächelte traurig. Nie wieder würde Malea die mitreißende Zuschauerin verkörpern können.

Lilia war nun die Einzige, die noch nichts gesagt hatte. In ihrem Kopf arbeitete es und Fria sah, dass sie mit der Sprache nicht herausrücken wollte.

Eigentlich wollte Fria ihre Freundin nicht drängen, doch nach ihren gestrigen Vermutungen interessierte sie sich sehr dafür, was Lilia am meisten vermissen würde.

Der Mund der jungen Schriftstellerin klappte auf und sie räusperte sich. „Malea und ich, wir ..." 

Weiter kam sie nicht. Ein Schuss halte durch die Nacht. Er war ohrenbetäubend laut und deshalb sicher nicht allzu weit entfernt abgefeuert worden.

Vögel schreckten auf und eine Windböe brachte die Kerzen zum Erlöschen.

Sofort war Jaspers Vater an die Seite der Freunde getreten und zückte seine Pistole. Seine Polizeiuniform sah eindrucksvoll aus, aber würde sie auch Pistolenkugeln abhalten?

„Das war ein Schuss, oder?", fragte Benno, um sicher zu gehen, obwohl ihnen allen die Antwort schon klar war.

„Ja", flüsterte Jim. Seine Haltung war angespannt.

Als sich Jasper erheben wollte, drückte er seinen Sohn wieder nach unten auf die Bank. „Bleibt alle hier. Ich gehe nachsehen."
Jasper verzog das Gesicht. „Ich lasse dich nicht allein in den Wald laufen Papa."

„Ich bin für so etwas ausgebildet. Lasst mich die Umgebung sichern, dann könnt ihr nachkommen." 

„Und was, wenn der Mörder so lange ans Baumhaus kommt und uns abknallt?", provozierte Jasper seinen Vater.

„Jasper!" Jim sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. „Ich durchschaue dein schlechtes Spiel. Du willst mich nur dazu zwingen, dass du mitkommen darfst."

„Ja", gab Jasper zu und stand endgültig auf. „Aber es funktioniert. Ich bleibe nicht hier und warte auf den Mörder, wenn mein Vater mit der einzigen Waffe davonrennt." 

Wieder warf Jim seinem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu, aber nun erhoben sich auch seine Freunde.

„Tut mir leid Jim", entschuldigte sich Fria. „Wir werden auch in sicherer Entfernung hinter dir herlaufen." Man sah der jungen Frau ihre Angst am ganzen Körper an. Wenigstens sie schien den Ernst der Lage zu begreifen.

„Das will ich hoffen." Jaspers Vater war nicht wohl bei der Sache. Natürlich war er mitgekommen, um die Jugendlichen zu beschützten, aber er hatte nicht erwartet, dass er seiner Aufgabe nun auch tatsächlich nachkommen musste.

Was würde sie erwarten, wenn sie dem Geräusch des Schusses folgten und nach Osten in den Wald einbogen?

Wieder die Leiche eines Kindes? Oder noch etwas Schlimmeres?
Keinem der fünf war wohl, als sie die ersten Schritte in Richtung des Schusses taten.

Ob in Form von Zittern, Bauchweh oder Übelkeit. Auf den Anblick, der sich ihnen wenige Minuten später bot, war keiner richtig gefasst gewesen. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt