Szene ①

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Angehaltener Atem, zitternde Knie und ängstliche Gesichter. Die Freunde und Jaspers Vater liefen wie eine Entenfamilie hintereinander her durch den Wald. Im Gleichschritt und in einer Reihe. Alle darauf gefasst, dass wenn der Vordermann ein Zeichen gab, man sofort in Deckung gehen konnte.

Die Anspannung war grenzenlos. Was würde sie gleich erwarten?
„Von hier muss der Schuss gekommen sein", informierte Jim die Freunde und umklammerte seine Pistole noch einen Tick fester.

Es war weniger die Angst um sich als die um seinen Sohn, die ihn gerade so nervös machte.

„Und siehst du was?", fragte Benno, der in der Reihe ganz hinten stand.

Jim trat noch ein paar Schritte nach vorne, doch dann stoppte er. „Ja, ich sehe was", antwortete er atemlos.

Der große Mann schritt zu Seite und die Freunde bauten sich neben ihm auf. Der Wald war an dieser Stelle sehr dicht, überall versperrten Bäume die Sicht.

Doch den leblosen Körper eines Mannes konnte man nicht übersehen. In der Dämmerung konnte man Statur, Klamotten und auch die Gesichtszüge noch sehr genau ausmachen.

„Das ist ...", begann Fria, konnte dann aber nicht weitersprechen.

„Hans Verhaag." Benno schluckte schwer. „Er wurde erschossen."

Jasper wollte einen Fuß nach vorne setzen, um sich ein genaueres Bild von der Lage zu machen, doch sein Vater hielt ihn zurück. „Nicht. Der Mörder könnte noch in der Nähe sein."

„Vielleicht hat er sich auch einfach selbst umgebracht", schlug Jasper vor. „Weil er mit der Last, seine beiden Töchter auf dem Gewissen zu haben, nicht leben konnte." Er versuchte krampfhaft, an dieser Erklärung festzuhalten. Es musste einfach so sein. Die Geheimnisse sollten mit diesem Tod endlich vorbei sein.

„Ich kann das ohne Beweise nicht so stehen lassen. Bevor wir zu ihm gehen, werde ich meine Kollegen verständigen. Das hätte ich sowieso längst machen sollen." Jim zückte sein Handy und wies die Freunde mit einer weiteren Handbewegung in die Schranken. Während er telefonierte, sollten sie an Ort und Stelle warten.

„Wir können hier nicht einfach stehen bleiben. Vielleicht finden sich bei ihm irgendwelche Hinweise." Jasper kochte vor Wut.

Sicherlich stand er unter Schock. Wieder waren die Freunde mit einer Leiche konfrontiert. Wieder wusste keiner, was zu tun war. Der Adrenalinpegel war unglaublich hoch und die Nerven gespannt.

„Wir können nicht einfach zum Tatort gehen und die Spuren verwischen", versuchte Fria ihren Freund zur Vernunft zu bringen. „Das ist eine Straftat."

Jasper hockte sich fluchend auf den feuchten Waldboden. „Aber ich will wissen, was da vor sich geht. Und wenn die Polizei die Beweise vor uns in die Finger bekommt, werden wir nie davon erfahren. Mein Vater wird sicher denken, dass er mich mit Unwissenheit besser schützen kann."

„Ich sollte jetzt sicher sagen, dass Jim damit recht hat, aber ich bin deiner Meinung." Lilias Hände zitterten leicht. Immer wieder sah sie verstohlen zu dem leblosen Körper nicht weit von ihr entfernt. „Wir sind mindestens so involviert wie die Polizei selbst und ich finde, Informationen stehen uns zu. Egal, wie alt wir sind."

„Na gut", gab Fria nervös nach. „Vielleicht liegt ihr richtig. Vielleicht brauchen wir diese Infos. Aber das macht nicht besser, was auch immer ihr vorhabt."

Jasper und Lilia sahen sich an. Man wusste nicht, ob es nun Gedankenübertragung war, oder einfach nur Zufall, doch in der nächsten Sekunde sagten sie gleichzeitig: „Einer rennt gucken und die anderen lenken Jim ab."

Fria schnappte nach Luft. „Das ist viel zu riskant. Man kann viel zu leicht entdeckt werden." 

„Bitte Fri, vertrau mir. Wir haben nicht mehr viel Zeit, gleich wird Jim mit dem Telefonieren fertig sein. Entweder jetzt oder nie." 

„Jetzt", sagten Lilia, Jasper und auch Benno.

„Nie", rief Fria.

Doch als alle ihrer Freunde sie böse ansahen, gab Fria nach und nickte. „Dann mach du es Lilia."

„Wieso ich?" Die junge Frau spielte nervös mit ihren langen, blonden Haaren. Das ungewollte Zittern fuhr noch immer durch ihre Finger.

Fria dachte an das Gedicht über Malea und Lilias Versuche, ihre Emotionen zu unterdrücken. Wenn es Beweise am Tatort gab, sollte Lilia sie als erste sehen dürfen.

„Ich hab es einfach im Gefühl", erklärte Fria und drehte sich schwungvoll in Jims Richtung. Sie marschierte vorneweg und Benno und Jasper folgten ihr schnell.

Lilia sah ihren Freunden ein paar Sekunden verdutzt hinterher, doch dann drehte sie sich ebenfalls weg und rannte in Hans Verhaags Richtung. Schon von Weitem schlug ihr der blutige Geruch in die Nase und ihre Ohren begannen zu klingeln. Etwas stimmte nicht mit dieser Leiche.

Sie sah ein Einschussloch kurz oberhalb der Brust und die braunen Augen des Fünfundvierzigjährigen waren vor Schrecken geweitet.

Lilia erinnerte sich noch gut an den Hans Verhaag von früher, der ihrer Freundin aus Kinderbüchern vorgelesen und Lieder auf der Gitarre begleitet hatte. Was war nur aus ihm geworden?

Lilia wollte gerade wieder umkehren, sie fühlte sich enorm unwohl. Doch da entdeckte sie einen Gegenstand, der neben der Leiche im Gras lag. 

Sie beugte sich hinab und ihre Finger umfassten kaltes Metall. Es war eine Kamera. Eine schon etwas ältere Kamera.

Daneben lag ein Zettel.

Findet den Förster, sonst werden Maleas und Lanis Blut zu eurem Blut.

Lilia bekam eine Gänsehaut. Auch wenn sie diesen Spruch in verschiedenen Varianten nun schon einige Male gehört hatte, hörte er nie auf, Angst zu verbreiten. Diese Worte trafen einen immer unvorbereitet.

Außerdem stellte sich ihr nun eine neue Frage. Wer war dieser Förster? Was hatte er mit der Sache zu tun?

Irgendwo fern im Wald ertönte eine Sirene. Die ersten Polizeiwagen machten sich auf den Weg.

Lilia schob sich die Kamera seitlich unter das T-Shirt und befestigte den Gurt um ihren Hals. Den Zettel schob sie in die Tasche ihrer Jeanshose.

Mit dem T-Shirt und der Jacke darüber, konnte man die Kameraumrisse nur noch erahnen. Lilia hoffte, dass niemand zu genau hinsehen würde.

Schnell verließ die junge Frau den Tatort. Sie zog eine kleine Schleife durch den Wald, damit es am Ende so aussehen würde, als sei sie aus einer ganz anderen Richtung gekommen. Sicher hatten ihre Freunde Jim erzählt, sie wäre kurz auf Toilette gegangen.

Oder vor Ekel kotzen.

Oder beides.

Lilia fasste sich an die Hüfte, wo die Kamera sicher verborgen lag. Irgendwann müsste sie der Polizei wohl alles beichten. Was sie gerade getan hatte, war nicht legal. Aber vorerst war sie im Besitz der Kamera. Und vielleicht würde sie so Neues über Malea herausfinden.

Hans Verhaag schien, obwohl sie es alle angenommen hatten, wohl doch nicht der Mörder zu sein. Immerhin hatte keine Waffe in seiner Nähe gelegen. Er konnte sich nicht selbst umgebracht haben.

Doch die Frage war, wer war es dann? Und was hatte es mit diesem Förster auf sich?

Lilia musste die Wahrheit herausfinden. Und hoffentlich würde sie auf der Kamera ihre Antworten finden. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt