Szene ⑤

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Lilia saß an diesem Nachmittag in ihrem Zimmer. Regen plätscherte in den Garten des kleinen Bauernhofs. Es blitzte und donnerte kurz darauf.

Endlich war Lilia allein.

Nachdem sie am gestrigen Abend nach Hause gekommen war, hatte ihre Familie sie überfallen. Sie lebten nahe an der Polizeistation und ihre Eltern waren stutzig geworden, als der Alarm losgegangen war. Sie waren sofort vom Schlimmsten ausgegangen.

Lilia hatte alles bis ins kleinste Detail erklären müssen und über dreißig Mal versichert, dass es ihr gut ging.

Dann hatten ihre Eltern sie gezwungen, mit ihnen im Wohnzimmer zu schlafen. Ihre Großmutter hatte heißen Tee vorbeigebracht und gemeinsam waren sie alle eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war Lilia nicht aus dem Wohnzimmer entlassen worden. Sie wurde unter der Ausrede, Gesellschaftsspiele zu spielen, von ihrer Familie unter die Lupe genommen. Lilia hatte sich gefühlt wie ein Tier im Zoo. Machtlos und immerzu beobachtet.

Erst nach einem Mittagessen, was aus bestellter Pizza bestanden hatte, hatten ihre Eltern sie in ihr Zimmer entlassen. Lilia war nicht einmal genervt davon, dass ihre Eltern bei ihr gewesen waren.

Im Gegenteil. Sie schätzte sogar, dass sie versucht hatten, für ihre Tochter da zu sein. Was sie jedoch nicht mochte, war, wie keiner ihr zugehört hatte.

Lilia ging es gut. Klar, sie war geschockt darüber, eine Leiche gesehen zu haben, aber nun war sie nicht mit ihren Gefühlen involviert.

Anders als bei Malea war Lilia nicht traurig. Hans Verhaag hatte sich wahrscheinlich nicht selbst ermordet, und vielleicht hatte er auch seine Kinder nicht umgebracht. Doch in Lilias Hirn zeichneten sich die anderen Dinge ab, für die sie ihn hassen konnte.

Er war erstens in die Schule eingebrochen, nur um eine Botschaft an die Wand zu schmieren. Davon hatten sie einen Beweis auf Video.

Lanis Blut ist euer Blut.

Und zweitens war er ein ganz mieser Vater für Malea gewesen.

Lilia kannte zwar immer noch nicht die Beweggründe, doch ihr fiel beim besten Willen kein Grund ein, warum man seine Tochter und seine Frau vom einen auf dem anderen Tag alleinlassen konnte.

Außerdem hatte er Malea in den Wald gelockt, um sie ohnmächtig zu schlagen. Vielleicht wollte er sie auch bereits dort schon töten. Das war ein Fakt, denn er hatte in Maleas Tagebuch gestanden.

„Pfff." Lilia schüttelte sich. Nur darüber nachzudenken, tat weh. Alle Erinnerungen, die sie von sich, in die hinterste Kammer ihres Herzens geschoben hatte, sprudelten gerade wieder hervor.

Um sich abzulenken, blickte sie in ihrem Zimmer hin und her. Die Stille tat gut. Wenn man sie nicht gerade mit Gedanken füllte, konnte man seinen Ärger und seine Trauer zumindest für kurze Zeit vergessen. Trotzdem musste Lilia sie nun durchbrechen.

Entschlossen griff sie nach der Kamera, die sie gestern sicher in ihrem Nachttisch verstaut hatte.

Nachdem ihre Eltern die erste Runde Fragen gestellt hatten, hatte Lilia kurz die Möglichkeit zum Duschen bekommen, und sie auch bereitwillig genutzt.

Schnell hatte sie die Kamera in ihrem Zimmer versteckt, damit ihre Familie sie nicht finden konnte.

Hans Besitzstück fühlte sich kalt an. Das Metall war alt und an manchen Stellen fand Lilia Macken.

Fragend strich sie über die Hülle und versuchte, irgendetwas an ihrer Außenwand zu erkennen. Irgendein Hinweis darauf, was sie gleich erwarten würde.

Tatsächlich fand Lilia den Hinweis kurze Zeit später. In einer feinen Schrift waren zwei Buchstaben auf der Unterseite eingraviert.

Lilia schluckte. Das konnte doch nicht wahr sein! Es konnte nicht ...

Doch dann verstand sie, wie es eben doch sein konnte.

Im Metall befanden sich zwei Buchstaben.

Ein M und ein V.

Malea Verhaag.

Die junge Künstlerin hatte jede ihrer Kameras mit ihren Initialen verziert.

Kurz hatte Lilia überlegen müssen, bevor sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammensetzte.

In ihrem Tagebuch hatte Malea geschrieben, wie sie ihrem Vater und ihrer Schwester die Kamera mit in den Wald gebracht hatte. Kurz, bevor sie dann ohnmächtig geschlagen wurde.

Das war Maleas Kamera. Mit Maleas Fingerabdrücken und Maleas Fotos. Was hatte Hans Verhaag mit ihr gemacht?
Zitternd fuhr sich Lilia erst durch die Haare und drückte dann den Knopf mit dem ON-Zeichen.

Mit einem Piepsen schaltete sich die Kamera an. Die Linse fuhr aus und Lilia konnte in dem kleinen Bildschirm ihr Zimmer sehen.

Unsicher drückte sie ein paar Knöpfe, bevor sie das Menü fand. Wenn Hans Verhaag hier etwas draufgespielt hatte, würde sie es zwischen all den schönen Fotos von Malea finden.

Nein, das war falsch. Sie würde es als erstes sehen. Denn nachdem Hans die Kamera im Besitz hatte, hatte Malea nicht mehr die Chance dazu gehabt, neue Bilder zu machen.

Wieder begann Lilia zu zittern, als sie das Standbild des ersten Videos sah. Tatsächlich war dort Hans Verhaag abgebildet, wie er in einem trostlosen, grauen Raum stand.

Als sie ein Foto weiterscrollte, erblickte sie eine Blumenwiese. Lilia war dabei gewesen, als Malea dieses Bild gemacht hatte. Sie waren zu einem Picknick in den Wald aufgebrochen und hatten an dessen Rand diese wunderschöne Wiese gefunden. Lilia ertrug die Schmetterlinge nicht, die sich bei diesem Anblick in ihrem Bauch ausbreiteten, also klickte sie schnell ein Bild zurück.

Wieder erschien das Video von Hans Verhaag auf dem Kameradisplay.

Lilia fragte sich kurz, ob sie das überhaupt sehen wollte. Ob sie sich noch tiefer in die Welt der Gefahren begeben sollte. Ob sie nicht lieber an ihrer Trauer arbeiten sollte, um irgendwann mit allem abschließen zu können.

Doch die Neugierde war zu groß. Die Angst, einen wichtigen Hinweis zu verpassen.

Also klickte Lilia auf PLAY und drückte sich tiefer in die flauschigen Kissen auf ihrem Bett.

Sie hatte Angst. Große Angst.

Lilia sah sich das Video an. Ihre Augen sahen, wie sich Hans' Verhaags Lippen bewegten. Wie sie Worte formten, die sicher von Bedeutung waren. Wie er anfing zu weinen und gar nicht mehr aufhörte.

Lilia sah es, doch sie hörte es nicht. Ihre Augen starrten geradezu durch den Bildschirm hindurch. Erst, als Verhaag bei seinem letzten Satz angekommen war, blinzelte Lilia.

Sie hörte die kratzige Stimme des Familienvaters und verinnerlichte seine Worte.

Sie wusste nicht, was in sie gefahren war, als sie anfing zu nicken.

Hans hatte recht. Sie wusste es einfach. Das, was er sagte, war die Wahrheit. Und vor allem dieser eine Satz war wichtig. Er war echt, wahr und wahrhaftig, und nicht nur da, um Angst zu verbreiten.

Lilia würde ihn verinnerlichen und an die Öffentlichkeit bringen. Und sie würde helfen, die Geheimnisse der träumenden Wälder zu lüften.

„Findet den Förster. Sonst werden Maleas und Lanis Blut zu eurem Blut." 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt