Szene ①

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Nachdem man dem Tod begegnet ist, fängt man an, sein Leben zu hinterfragen. Nutze ich meine Zeit sinnvoll? Schätze ich das Leben genug? Kann ich vergessen, was ich gesehen habe, oder wird mich der Schmerz langsam von innen heraus auffressen?

All diese Gedanken begleiteten die Freunde einen Tag nach Lanis Tod.

Lilia schluckte. Würden die Worte nicht sie selbst betreffen, sondern eine ihrer Romanfiguren, kämen sie aus einem Buch, sie hätte sie hinterfragt, aber sie nie so verstanden, wie sie es jetzt tat.

Lani war gestern gestorben. Die Freunde hatten ihren Leichnam gefunden und die Polizei gerufen. Als Jaspers Vater und die anderen Polizisten kamen, hatten sie die vier Freunde sofort weggeschickt. Trotzdem ging der Anblick des toten Mädchens nicht mehr aus Lilias Kopf.

Die von Schrecken geweiteten Augen, das viele Blut um die Einschussstelle, das bleiche Gesicht. Lani war erschossen worden.

Lilia versuchte immer wieder, den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben, der sie so penetrant seit gestern Abend am Atmen hinderte. Schon den ganzen Tag lang wartete sie auf die Tränen, doch sie kamen nicht. Noch konnte sie nicht weinen.

Stattdessen vertrieb sie ihre Zeit mit banalen Tätigkeiten. Gerade sammelte sie im Kräutergarten ihrer Familie Pfefferminze für einen Tee. Die Kräuter rochen gut und erfrischend, doch auch sie nahmen die Erinnerungen an die gestrige Nacht nicht.

Lilia fragte sich, ob es je besser werden würde. Sie hatte doch erst mit dem Bild zu kämpfen gehabt, was sich in ihren Kopf gebrannt hatte, nachdem sie Malea das erste Mal in ihrem Krankenbett gesehen hatte. Als ihr die Ärzte mitgeteilt hatten, dass sie im Koma lag. Doch nun gab es auch noch das Bild von Lani, welches seit gestern in ihrem Kopf herumgeisterte.

Lilia hätte alles dafür getan, jetzt mit Malea sprechen zu können. Ihre Freundin war ihr seelischer Anker. Obwohl sie ebenfalls emotional überfordert mit der Situation gewesen wäre, hätten sie sich aneinander lehnen und füreinander da sein können.

„Lilia? Liebes, wo bleiben die Kräuter?" Ihre Oma rief ihr von der Küche aus zu, deren Fenster an den Kräutergarten grenzte.
Womöglich saß Lilia schon eine ganze Weile regungslos bei den Gräsern und hatte es nicht einmal bemerkt. 

„Ich komme Oma." Sie erhob sich und ging ins Haus. Ihre Großmutter nahm ihr die Pfefferminze ab und gab sie in eine Tasse, in die sie kurz darauf auch kochend heißes Wasser goss.

Lilia nahm ihre Tasse dankend an und ging wieder nach draußen.

Sie setzte sich in einen der Gartenstühle, den Blick auf den Wald gerichtet, der sich von allen Seiten um das kleine Dörflein schloss. Hier konnte sie besser denken.

Auch wenn der Wald nun schon zweimal Schauplatz einer Tragödie geworden war, war er trotzdem ihr Zuhause. Sie kannte ihn in und auswendig und teilte größtenteils positive Erinnerungen.

Lilia nahm einen Schluck von ihrem Tee. Eigentlich war es zu warm für das Wintergetränk, doch seit gestern fühlte sich ihr Hals trocken an, wie eine sandige Wüste. Jedes Mal, wenn ihre Vergangenheit sie einholte, wich die Nässe aus ihrem Mund und der Kloß in ihrem Hals wurde größer. Deshalb tat der frische, warme Tee gerade besonders gut.

Lilia hatte heute noch nichts Sinnvolles getan. Nachdem die Nachricht über Lanis Tod am Morgen publik geworden war, hatte man den Schülern noch einen Tag frei gegeben, um den Schock zu verarbeiten. Zwar war das Mädchen nicht auf ihre Schule gegangen, doch nun war es offiziell, dass in ihrem Dorf ein Mörder frei herumlief.

Heute kamen keine Aufgaben von der Schule. Lilia musste keinen Pflichten nachgehen. Sie sollte sich erholen. Und das versuchte sie auch. Trotz der Unterstützung ihrer Familie blieb der Schreck von gestern zu jeder Zeit präsent in ihrem Kopf.

Wieder nahm Lilia einen Schluck Tee zu sich. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Als würden zu viele Gedanken gleichzeitig in ihm herumwirbeln.

Zu viele Geheimnisse waren ungeklärt.
Lani war zwar wieder aufgetaucht, aber das hatte nur noch mehr Fragen aufgeworfen.

Warum war sie verschwunden? Wohin war sie verschwunden? Wer hatte sie getötet? Und warum?

Dazu kamen die Fragen, die sie und ihre Freunde die letzte Woche lang beschäftigt hatten.

Was war mit Malea passiert? War sie nur gestolpert oder hatte auch sie eigentlich sterben sollen? Und was war mit den beiden anderen entführten Mädchen passiert?

„Lilia? Möchtest du mit mir reden?"

Die junge Autorin hatte es nicht gemerkt, doch ihre Mutter hatte sich zu ihr nach draußen, auf einen der alten Terassenstühle gesetzt.

Oh Mann, sie musste wirklich mal an ihrer Auffassungsgabe arbeiten. Dass Benno gestern in ihr Zimmer gekommen war, hatte sie ja auch schon nicht gehört.

Lilia schüttelte langsam den Kopf. Sie konnte ihre Mutter nicht in ihre Gedanken einweihen, sie konnte ihr ja auch nicht helfen.

Frau Hohn legte ihrer Tochter mitfühlend den Arm auf die Schulter. „Ich weiß, ich kann nicht rückgängig machen, was du gestern mit ansehen musstest, aber wenn es etwas gibt, mit dem ich dir helfen kann, dann lass es mich wissen."

Lilia nickte. Sie schätzte das Angebot ihrer Mutter, doch es gab dieses hilfreiche Etwas nicht. Sie konnte noch nicht einmal den Mund aufmachen und antworten, so ratlos war sie. Doch ihr Nicken reichte ihrer Mutter. „Also gut. Ich bin drinnen, sollte dir doch etwas einfallen. Vielleicht hilft es, wenn du mit deinen Freunden darüber redest. Immerhin teilt ihr ein und dasselbe Schicksal", riet ihre Mutter ihr noch, bevor sie wieder aufstand.

Lilia wusste, dass ihre Freunde ein guter Anhaltspunkt wären, aber bevor sie sich der Konfrontation stellen würde, wollte sie die Zeit mit sich allein nutzen, um nachzudenken. Vielleicht würde sie auch noch Malea besuchen. Denn obwohl diese ihr nicht helfen konnte, war ihre bloße Präsenz tröstlich.

Lilia lächelte schwach. Zu einer Zeit, in der Maleas feuerrote Haare noch im Wind geweht hatten und ihr breites Lächeln Berge versetzt hatte, hätte Lilia wohl besser mit der Situation umgehen können. Malea hätte es durch ein paar einfache Sätze geschafft, Lilia aus ihren Gedanken zu reißen und sie zum Lächeln zu bringen.

Doch Malea lag im Koma und Lilia wurde immer wieder an die erschossene Lani erinnert.

„Lilia, es ist in Ordnung traurig zu sein. Du darfst mir deine Gefühle zeigen und du musst sie rauslassen, damit sie dich nicht auffressen. Und wenn du das getan hast, hole ich uns ein Eis", hatte Malea gesagt, als Lilias erster Hund gestorben war. Und das hatten sie dann auch getan. Zusammen hatten die beiden Mädchen im Baumhaus gesessen. Malea hatte ihre Arme um Lilia geschlungen gehabt und diese hatte bitterlich alles aus sich heraus geweint.

Lilia hatte sich in diesen Minuten gleichzeitig unendlich traurig, wie auch unendlich erleichtert gefühlt. Sie hatte sich glücklich geschätzt, so eine tolle Freundin zu haben.

Und als Lilia sich an diesem Tag die letzte Träne abgewischt hatte, hatte Malea eine ganze Schüssel Eis aus dem Kühlschrank geholt, die sie zusammen ausgelöffelt hatten.

„Ich vermisse dich", flüsterte Lilia. Nur beim Gedanken an diese Erinnerung kamen ihr fast schon wieder die Tränen. Sie wusste nun, wie sie den Tag doch noch nutzen konnte.

Sie würde wirklich nach Malea sehen.

Sie würde die Tür des Krankenzimmers verriegeln und ihrer bewusstlosen Freundin ihren Kummer beichten. Sie würde alles herauslassen.

Und danach würde es ihr endlich etwas besser gehen. 

Die Geheimnisse der träumenden Wälder (I)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt