Es ist Winter. Es liegt Schnee. Nicht erwähnenswert viel, aber immerhin. So viel, dass ich meine Fußspur am Bahnsteig entlang verfolgen kann, wenn ich einen Blick über die Schulter zurück werfe.
Es ist Winter. Und es ist wirklich arschkalt. Verzeiht den Ausdruck. Wirklich sehr kalt. So kalt, dass die warme Luft vor meinem Gesicht zu bibbern beginnt. So kalt, dass mich nicht einmal mehr die Winterjacke davor bewahren kann, dass meine Finger in meinen Taschen taub von der Kälte werden.
Eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher kündigt den nächsten Zug an und warnt mich davor, zu nah am Bahnsteigrand zu stehen. Amüsant, denke ich mir, als ob mir der Gedanke kommen würde, mich vor den Zug zu werfen.
Mein Blick schweift von den fernen, sich nähernden Lichtern des Zuges zu der einzelnen Bank auf dieser Seite des Bahnsteiges. Auf dem ungemütlichen, kalten Sitzgitter liegt mein Ein und Alles, auf seinem Schal, unter dem Berg meiner Decken vergraben, und schläft. Seine Schnauze hat er in die kalte Luft nach draußen gestreckt, seine Barthaare zucken, als würde er gerade von einem Abenteuer im Schnee träumen. Vielleicht davon, auf einer freien Wiese im Schnee zu tollen. Oder vor einem warmen Kaminofen zu liegen und sich von dem Knacken des brennenden Holzes in den Schlaf wiegen zu lassen.
Aber diesen Luxus kann ich ihm nicht bieten. Meine Decken und sein Schal, das ist alles, was ich habe, um ihn gegen diese Arschkälte abzuschirmen und es ihm behaglich zu machen.
Ich blicke zurück auf die Lichter des Zuges, sehe den weißen Dampf, den die Lock in die Winternacht stößt, und ein Gedanke von Weihnachten kommt mir in den Sinn. Gedanken, Erinnerungen an früher, an eine Zeit, als ich nicht die wenigen Münzen in meiner Hand immer und immer wieder zählen musste, um sichergehen zu können, dass sie genug wert sind, um uns auch ans richtige Ziel zu bringen und uns nicht auf dem nächsten, abgelegenen Bahnsteig stranden zu lassen.
Ich wecke meinen alten Kumpel auf, der sich mit einem Seufzen aufrafft und wartet, bis ich aus dem Deckenhaufen befreit habe, bevor er sich schüttelt und munter von der Bank herunterspringt, als wäre er ein Jungspund und keine 10 Jahre alt. Wir trotten zusammen an den Rand des Bahnsteiges und besteigen den Zug, suchen uns ein Abteil, das leer ist und lassen uns nieder. Er liegt mir gegenüber, breitet sich, auf den Decken liegend, auf den 2 Sitzen aus. Mit einem tiefen Seufzen schläft er wieder ein. Meine Nerven vibrieren, du könntest darauf Gitarre spielen, so angespannt sind sie. Ich habe Angst, dass sie uns rauswerfen. Weil das Geld doch nicht reicht. Weil ich meinen Hund auf den Sitzen schlafen lasse. Weil sie Angst haben, dass wir am Ende nicht wieder aussteigen. Was weiß ich, was euch durch den Kopf geht, wenn ihr solchen Leuten wie Unsereinen begegnet. Eure Blicke sind abwertend und kein nettes Wort kommt euch über die Lippen. Ganz weit weg setzt ihr euch hin, ihr macht einen großen Bogen um uns, als würden wir einen ansteckend Virus mit uns herumtragen und nicht einfach nur das Unglück, die gesellschaftliche Spirale hinuntergerutscht zu sein. Denn wir sind am Boden und mit euren Blicken tretet ihr noch auf uns ein.
Ich schaue nicht auf euch, die ihr euch gerade mit in meinem Abteil niederlasst, sondern starre auf meine Hände, in denen ich das letzte Kleingeld halte, das ich noch habe. Das soll uns ans Meer bringen. Dorthin, wo wir bleiben wollen. Dort, wo Touristen sind. Dort, wo man vielleicht bessere Chancen hat, einen kleinen Touri-Job zu ergattern als in der Großstadt, in der wir übersehen werden.
Der Schaffner kommt, lächelt mich an und der Knoten in meinem Bauch löst sich etwas. Er ist noch jung, hat seine Ausbildung bestimmt noch nicht lange abgeschlossen. Er berechnet mir den Ticketpreis und rechnet mein Geld ab. Und dann halte ich mein Ticket in den Händen. Das Ticket in ein neues Leben. Das Ticket, das uns hoffentlich ein viel besseres Leben bescheren wird. Aber allein kann das dieses Ticket nicht leisten. Dafür brauchen wir auch euch. Die, die uns anstellen können. Die, die uns helfen können, einen Schlafplatz zu finden. Die, die uns unterstützen und uns nicht ignorieren, als wären wir nicht da. Die, die uns Hoffnung geben, dass ich eines Tages zu meinem alten Freund sagen kann: „Wir haben es geschafft.“//~~~~~~~~~~~}~~~~~~|~~~~~~]~~~~~~~~~
Weil der Winteraward von der lieben _MaryWinters_ leider doch nicht stattfinden kann, veröffentliche ich meine winterlich angehauchte Kurzgeschichte dazu nun hier.
#TakeCare🧡 #SpreadDecency⭐ #BeMindful❤

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divers
Historia CortaEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...