suicide

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Heyo, was geht?“, beantworte ich mein klingelndes Handy.
„Hey Alter. Was geht bei dir?“

Samuel ist am anderen Ende der Leitung. Mein bester Freund aus Kindergartentagen. Der loyalste Wegbegleiter, den man sich vorstellen kann.
„Hey ja, mir geht’s super. Was läuft bei dir?“
„Nichts großes. Gehen wir immer noch heute Abend in das Spiel?“
„Aber klar! Das wird das Beste!“
„Ich glaub auch.“
Entrüstet reiße ich die Augen auf.
„Nichts von wegen glauben! Wir wissen, dass es das Beste wird! Weil wir uns seit Monaten drauf freuen, Mann!“
„Ja, du hast recht“, pflichtet er mir zu.

Ich runzle die Stirn. Er klingt kein bisschen enthusiastisch. Nicht wie in den letzten Wochen, die wir darauf warten, ins Stadium zu gehen und unserem Verein beim Gewinnen zuzusehen.
„Hey, is alles gut bei dir? Hast du keinen Bock mehr drauf?“
„Nene, das is es nich.“ Es knackt in der Leitung.
„Ich weiß nur nicht, ob ich es schaffe.“
„Warum?“ Ein komisch mulmiges Gefühl beginnt, sich in meinem Magen auszubreiten.

„Weil ich auf der Brücke stehe und springen will.“ Die Verbindung verschlechtert sich, in meinem Ohr rauscht es. Bei seinen Worten ist mir für einen furchtbar langen Moment das Herz stehengeblieben. Und jetzt schlägt es im Akkord.
„Was redest du da? Warum stehst du auf der Brücke? Auf welcher Brücke?“
Ich versuche wirklich, nicht panisch zu werden, aber da steht mein bester Freund auf einer Brücke und spielt mit dem Gedanken, sein Leben zu beenden. Angst kriecht mir die Kehle hoch.
„Die Regenbrücke.“ Mein Körper reagiert, ohne sich mit meinem Kopf abzusprechen. Ich renne los, in Richtung Regenbrücke. Aber das sind um die 3 Kilometer. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es, rede ich mir ein.
„Warum stehst du da?“ Halt ihn an der Leitung, lass ihn reden, dann springt er nicht.
„Ich halt es nicht mehr aus.“

Seine Stimme kippt, das höre ich sogar durch meinen inzwischen schwer gehenden Atem.
„Andi, ich halts einfach nicht mehr aus! Er schlägt mich. Die ganze Zeit. Durchgehend. Und sie sagt nichts. Dreht den Kopf weg und geht. Und ich ertrags nicht mehr Andi!“
Er weint. Sein verzweifeltes Schluchzen rauscht durch die Leitung und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich sehe die Brücke vor mir, nur noch einen Kilometer, dann kann ich ihn da runterziehen!

„Samuel, mach keinen Scheiß! Geh von der Brücke runter!!“
Ich höre nur, wie er weint. So verzweifelt habe ich noch nie jemanden erlebt.
„Du kannst bei mir pennen, bis sich David wieder beruhigt hat! Okay?“
„Ich gehe nie wieder zu ihm zurück! Lieber geh ich wieder ins Heim!“
„Wir können eine Verfügung gegen ihn einreichen. Der Typ kommt nie wieder an dich dran!“
„Andi, der findet mich! Tut er immer.“
„Nein, wird er nicht. Bitte geh von der Brücke runter!“
„Er sagt mir immer, dass ich zu dumm bin, als dass etwas aus mir werden könnte! Er lässt mich nicht für meine Zukunft arbeiten! Ich kann ihm nicht entkommen!“
„Wir verklagen ihn, lassen ihn einsperren. Dann kann er dir nichts mehr!“
Er schluchzte verzweifelt auf.

„Andi, ich stehe auf dem Geländer.“
„Samuel, nein!“
Mir ist so schlecht wie noch nie. Ich könnte mir die Seele aus dem Leib kotzen. Aber da sehe ich ihn. Warum holt ihn da keiner runter. Sieht denn keiner, wie verzweifelt der Junge ist?
Ich setze den ersten Fuß auf die Brücke. Ich kann es schaffen. Ich lasse nicht zu, dass er sich wegen diesem Arschloch das Leben nimmt.

„Ich hab Angst, Andi“, gesteht er mir, jetzt wieder ruhiger. Aber er atmet hektisch.
„Aber ich werde mir von diesem Hurensohn nicht mein Leben verscheißen lassen. Sag das allen.“
„Samu, das kannst du ihnen selbst sagen! Bitte gib nicht auf!“
„Sag allen, dass er schuld ist. Und sie auch. Damit sie in den Knast kommen, weil sie einen Jungen in den Tod getrieben haben.“
„Samu, tus bitte nicht!“

Ich bin nur noch 10 Meter von ihm entfernt, setze zu einem Sprint an.

„Bro, ich liebe dich.“

Ich springe nach vorne, knalle mit dem Becken an das Brückengeländer, meine Schulte knackt angsteinflößend. Aber meine Hände haben sich in seine Hose gekrallt. Der Blick nach unten ist … .
Sein Handy fällt ins Wasser. Es platscht und geht in den Wellen unter.
Samu hat die Augen zusammengekniffen.

„Ich liebe dich auch, Bro“, murmle ich.
Sein ungläubiger Blick lässt mich grinsen. Plötzlich kommt wieder Leben in diesen Jungen, seine Hand schließt sich um meinen Arm, die andere tastet nach der Brüstung. Meine Finger rutschen.
„Hey!“, schreie ich. „Hey, kann mir jemand helfen?!“
Ich höre Schritte hinter mir, eilige, die sich nähern. Ich schwitze. Aber mein Bro grinst mich an.
Arme greifen an mir vorbei nach unten, packen Samu am Shirt und an der Hose und ziehen ihn nach oben. Setzen ihn auf der Brüstung ab. Ich lasse nicht los, traue ihm nicht, dass er es nicht doch noch versuchen würde.
Er schwingt seine Beine auf die sichere, befestigte Seite der Brückenbrüstung und zieht mich in eine Umarmung.
„Danke, Bro“, nuschelt er in meinen Hoodie.

Ich habe gerade den Suizidversuch meines besten Freundes verhindert.

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