escape

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caution: domestic violence

Das Jahr, das jeder am liebsten vergessen würde. Ich nicht, denn ich konnte mich endlich befreien.

Anfang März.
Corona taucht die ersten Male in den Nachrichten auf. Die Unruhe macht sich in mir breit, je ausführlicher von den Konsequenzen der Pandemie in China und dann in Italien berichtet wird.
Fabien lässt mich einkaufen gehen, nachdem ich ihn auf Knien darum angebettelt habe. Ich überschminke das Veilchen auf meinem Gesicht, ziehe mir einen langärmligen Pullover und lange Jeans an. Es ist kalt draußen, niemand wird es sehen. In meinen Parka gehüllt setze ich mich ins Auto. Ich weiß, dass er mich überwacht. Er will immer wissen, wo ich bin und was ich tue.

Im örtlichen Supermarkt scheint anscheinend das gesamte Dorf eingefallen zu sein. Fast das gesamte Toilettenpapiervorratslager ist weg, Hefe fehlt. Dosengemüse ist schon fast nicht mehr zu bekommen. Auf meine gerunzelte Stirn hin erklärt mir ein Mitarbeiter, dass seit den Corona-Nachrichten die Menschen wie Hamster einkaufen gehen.
Ich komme zurück nach Hause und finde Marianna mit Fabien spielend auf dem Boden sitzen. Mein gebrochenes Herz erwärmt sich ein wenig, wissend, dass er ihr nicht auch wehtut. Noch nicht.

Mitte März.
Der Lockdown wurde ausgerufen. Fabien soll von zu Hause aus arbeiten, Marianna kann nicht mehr in den Kindergarten und muss es jedes Mal mit ansehen, wenn er mich ins Schlafzimmer zerrt.
Wir sind in einem Apartment eingesperrt. Wir zwei mit diesem Mann, der eine tickende Zeitbombe mit ungeahnten Ausmaßen ist. Ich habe Angst vor ihm, Angst davor, was er mir antun wird, wenn er sich zu sehr eingesperrt und seiner Freiheit beraubt fühlt. Aber noch mehr Angst habe ich davor, dass er seine Wut auch an Marianna auslassen könnte.
Ich werde dich beschützen, mein Mäuschen, das verspreche ich dir.

Anfang April.
Die Situation hat sich noch nicht gebessert, eher verschlechtert. Die Länder um uns herum hat es weitaus schwerer getroffen als uns. So viele Menschen sterben an Corona. Die Nachrichten berichten davon, dass Frankreich und Italien nicht genug Krankenbetten haben, um sich der Corona-Welle entgegenstellen zu können. Dadurch, dass diese Lungenentzündungen auslösende Krankheit höchst ansteckend ist, sind die Krankenhäuser heillos damit überfordert, den Erkrankten gerecht zu werden und den normalen Betrieb dabei weiterhin nebenherlaufen zu lassen.

Fabien ist gewalttätiger geworden. Er brüllt mich an, schlägt mich ins Gesicht, öfter und härter als jemals zuvor. Und wenn er mich auf den Boden geprügelt hat, schlägt er immer noch weiter auf mich ein. Es ist, als könnte er sich selbst nicht ausstehen, so wütend ist er. Aber Marianna hat er noch nichts getan. Sie spielt immer, wenn er mich in unser Schlafzimmer prügelt. Ich hoffe, sie bekommt nicht allzu viel mit, aber ich weiß, dass sie zu klug ist, um nicht zu wissen, was da los ist.

Mitte April.
Die Situation in unserem Apartment eskaliert. Er hat mir verboten, das Haus zu verlassen. Er hat Angst, dass ich jemanden auf der Straße oder im Supermarkt um Hilfe bitten könnte. Und die Würgemale und blaue Flecke auf meinem Körper würden für mich sprechen, das weiß er. Deswegen lässt er mich nicht mehr raus. Er selbst geht einkaufen und sperrt uns in der Wohnung ein, solange er nicht da ist.

Wir sind gefangen. In unserem eigenen Zuhause. Ich darf nicht einmal an die Wohnungstür, wenn der Postbote oder der Hausverwalter klingelt, denn auch das könnte ihn verraten. Er hält sich nicht mehr zurück, er kann es nicht mehr. Zu wütend scheint er zu sein, zu eingesperrt in seinem Heim, mit seiner Familie, zu wütend, um sich noch kontrollieren zu können.
Jetzt zerrt er mich an den Haaren ins Schlafzimmer, achtet nicht mehr darauf, dass Marianna nichts davon mitbekommt. Er schlägt unkontrolliert und ohne Methode zu. Früher schlug er mich nur dort, wo es ein Pullover, ein TShirt oder eine lange Hose verbergen konnte. Jetzt interessiert ihn selbst das nicht mehr. Aber warum auch, wenn er mich nicht rauslässt. Jetzt bin ich übersäht mit blauen Flecken und Prellungen, die nicht verheilen, weil er jedes Mal wieder auf die gleiche Stelle schlägt. Und wenn ich dann auf dem Boden liege, tritt er auf mich ein. Mit dem Fuß und vollem Schwung. Als würde ihm nur das helfen, sich von seiner Wut gegen seine verlorene Freiheit zu befreien.

diversWo Geschichten leben. Entdecke jetzt