Ich bin auf dem Weg zur Beerdigung meines Freundes Willy.
Eigentlich Willbrandt, aber er mochte diesen Namen nicht. Er stellte sich immer von vorn herein als Willy vor. Und jedes Mal, wenn die Polizei seinen vollen Namen von seinem Führerschein ablas, biss er sichtlich die Zähne zusammen.
Er war ein Witzbold. Ein Abenteurer. Er konnte nie stillsitzen, immer war er in Bewegung. Heutzutage würde man dafür eine Diagnose für eine benennbare Krankheit bekommen, aber damals gab es sowas nicht. Zu unserer Zeit wurde man nur geschimpft, wenn man nicht aufhören konnte, zu zappeln.
Deswegen hatte er auch immer Schwierigkeiten in der Schule. Länger als eine halbe Stunde hielt er es nie aus, ruhig auf seinem Stuhl zu sitzen. Die Lehrer konnten nichts mit ihm anfangen und er musste ständig nachsitzen. Deshalb konnten wir nie wirklich oft etwas gemeinsam unternehmen, weil er Extraaufgaben machen musste oder noch zwei Stunden länger in der Schule festsaß. Aber nichtsdestotrotz war er ein guter Freund. Mein bester Freund.
Er hat mir geholfen und mir beigestanden.
Er fehlt mir. Ihn zu verlieren hat mir das Herz gebrochen. Er war noch der einzige Freund, den ich aus alter Zeit hatte. Jugendfreunde waren wir gewesen. Alle, die ich noch aus meiner Schulzeit gekannt hatten, waren schon tot. Ich hatte nie wirklich viele Freunde gehabt, aber die wahren Gefährten waren mir auch über die Jahre geblieben. Das Schicksal hatte sie viel zu früh eingeholt und unter die Erde gebracht. Zu jeder Beerdigung war ich gegangen, keine hatte ich verpasst. Sie hatten mir ein Leben lang die Freundschaft gehalten, also hab ich ihnen den letzten Dienst erwiesen.
Es war schwer gewesen, nachdem mein Mann viel zu früh gestorben war. Meine Kinder hatten vor Jahren selbst geheiratet und waren weggezogen, und so blieb mir das große Familienhaus, das wir damals für ein Schnäppchenpreis, im Vergleich zu heute war es das, gekauft hatten. Nah an der Küste, nur ein paar hundert Meter bis zum Strand. Alle vier Kinder hatten relativ zeitgleich den Partner fürs Leben gefunden und einer nach dem anderen war aus seinem Jugendzimmer ausgezogen. Wir hatten beschlossen, die obere Etage zu vermieten, um das Haus auf die Dauer finanzieren zu können. Wir ließen umbauen und bald lebte eine kleine Familie mit Hund über unseren Köpfen.
Und dann war Frank krank geworden. Die Ärzte waren gut, klärten uns auf und brachten uns schonend bei, was mit Frank geschehen würde. Er hatte eine Krankheit, die ihn nach und nach zerfressen würde. Parkinson. Er brauchte professionelle Pflege, ich konnte es allein nicht mehr, waren wir doch auch schon an die 80 und langsam wurde mir bewusst, dass das Leben bald vorbei sein würde. Franks Zustand verschlechterte sich zusehens, bis er im Alter von 79 Jahren am Silvesterabend starb.
Ich sagte mir, dass wir eine wunderbare Zeit zusammen gehabt hatten. Aber dennoch. Mit ansehen zu müssen, wie die Krankheit den einst so mutigen und starken Frank dahinraffte und ohne Hoffnung zurücklies, brach mir das Herz.
Es dauerte seine Zeit, bis ich den Verlust verarbeitet hatte und ich wieder an die mir noch verbleibende Zukunft denken konnte. Das Haus war zu teuer, um es noch halten zu können. Ich verkaufte es an den Höchstbietenden, was mir genug Geld einbrachte, um mir ein kleines Häuschen in einem der neu erschlossenen Baugebiete nahe der Küste zu kaufen. Ein Leben in der Stadt hatte ich nie gewollt und jeden Morgen die Salzluft in der Nase zu haben war etwas, was ich mir für den Rest meines Lebens ermöglichen wollte.
Willy war für mich da gewesen, nachdem Frank geworden war und erst recht, als er starb. Er fuhr mit mir ans Meer, an die verschiedensten Orte, jedes Mal ein anderer Strandabschnitt, den wir entlangliefen. Die Füße in Gummistiefeln und die Gesichter halb mit einem Schal verhüllt.
Ich laufe an der Küste entlang, oben, man könnte fast sagen, es ist eine Steilküste. Bei jedem Sturm bricht ein Stückchen mehr Landmasse ab. Die Kante ist durch einen provisorischen Zaun gekennzeichnet, man will verhindern, dass jemand ungewollt Selbstmord begeht.
Sehr morbide ausgedrückt, nun ist es aber so.
Es ist kein Sonnenscheintag, aber es regnet auch nicht. Es scheint so, als würde die Wolkendecke langsam aufreißen, genau über der Küste, um der Sonne den Weg frei zu machen. Meine Schuhe klackern auf den Steinen, der Boden ist etwas uneben, aber das stört mich nicht weiter. Mein Blick wandert auf das Meer zu meiner rechten, ich kann Niendorf hinter der nächsten Biegung des Weges ausmachen, und wenn ich zurückblicke, sehe ich den Leuchtturm von Travemünde. Es geht ein Wind hier oben und ich bin froh darüber, dass ich meine Lederhandschuhe angezogen haben. Sie sind schwarz, ergänzen mein Outfit. Ohne sie wäre mir die Hand, die das kleine Blumengesteck hält, längst eingefroren. Mein Blick geht wieder für einen Moment auf das Wasser, ich erkenne zwei Schiffe auf dem offenen Meer, ich weiß nicht, welche Strecke sie zurücklegen werden, ob sie nach Finnland und Schweden schippern, aber meine Gedanken schweifen ab.
Ich erinnere mich an eine Kreuzfahrt mit Willy, die er mit mir gemacht hat, kurz nachdem mein Mann verstorben war. Er hatte schon immer einen siebten Sinn für die Gefühle anderer Menschen und er muss wohl gewusst haben, wie elend ich mich in diesem Haus gefühlt habe. Meine Kinder waren wieder abgereist und das Haus war leer, weil auch die Mieter ausgezogen waren. Also hat mich Willy geschnappt, ist mit mir zum Hafen gefahren und hat mir eröffnet, dass wir vereisen werden. Dann waren wir ganze zwei Wochen auf einem Schiff, dass durch den ganzen Ostseeraum geschippert ist und ich bekam so viele Orte zu sehen, von denen ich nicht gewusst hatte, dass sie existieren. Ich machte mir Sorgen um das Geld, das Willy für mich ausgab, aber er versicherte mir, dass er zurückgelegt und gespart hatte und dass ich mir keine Gedanken machen sollte. Aber ich bin eine Frau und machte mir Gedanken und zwei Jahre später, als er mit schließlich mit seiner Rente nicht mehr auskam, half ich ihm mit dem Gewinn aus dem Verkauf des Hauses aus. Es war nicht viel, aber es reichte, um ihn über Wasser zu halten.
Mein Blick schweift weiter, versonnen betrachte ich den Boden unter mir, die Steine, große und kleine, während ich einen Fuß vor den anderen setzte. Die Steine erinnern mich an einen Sommer aus meiner Schulzeit, als ich mit Willy für vier Wochen in ein Ferienkamp zog. In diesem Sommer hat er mir beigebracht, Steine über das Wasser flitschen zu lassen. Es ging soweit, dass wir einen Wettbewerb innerhalb des Kamps veranstalteten und derjenige, der am weitesten flitschen konnte, musste für den Rest des Ferienlagers nicht mehr beim Abspülen helfen. Es war ein Tag voller Lachen und Gemeinschaft, einer der schönsten Tage meiner Jugend. Und dazu hatte hauptsächlich Willy beigetragen.
Mit einem leichten, wehmütigen Lächeln hebe ich den Kopf , lasse mir den Wind ins Gesicht wehen, erinnere mich an Tage mit Willy am Strand, in den Anfängen unserer 20er, als ich noch nicht meinen zukünftigen Mann und Willy noch nicht seine zukünftige Frau kennengelernt hatte. Es waren Tage voller Sonne, Wellen und Wind. Wir waren noch jung und voller Energie gewesen, hatte stundenlange Spaziergänge am Strand unternommen, um dann irgendwo die Picknickdecke auszubreiten und etwas zu essen, weil die salzige Meeresluft uns so ausgehungert hatte. Abends saßen wir auf den Steinen, die noch nahe dem Wasser lagen, die Füße in den leichten Wellen, die noch ans Ufer schlugen und die Augen gen Sonnenuntergang gerichtet. Unsere Arme lagen abgestützt hinter uns auf den Steinen. Dann, irgendwann, nach gefühlten Stunden, als die Sonne gerade noch ihren letzten Strahlen über das Meer schickte, drehte Willy den Kopf zu mir, sein Blick verhakte sich mit meinem. Vermutlich muss er gespürt haben, dass ich ihn unverfroren angesehen hatte, sein Profil in das Licht der untergehenden Sonne war einfach atemberaubend gewesen, zu schön, um wegsehen zu können. Seine braungrünen Augen wanderten mein Gesicht ab, bis sie wieder zu meinen Augen zurückkehrten und er sich langsam zur Seite lehnte, mir entgegen, und mich sanft auf die Wange küsste. Ich hatte die leise Berührung genossen, aber es war mir nicht mehr genug. Ich kam ihm entgegen, meine Hand legte sich in seinen Nacken und zog seine Lippen auf meine. Es war die schönste Nacht meines Lebens.
Mein Blick wandert umher, sieht die neu abgebrochene Kante der Küste, nimmt den neu gekiesten Weg wahr. Meine Schritte sind rasch und entschlossen. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, zu viele Erinnerungen, um konzentriert zu bleiben. Ich bleibe kurz stehen und ziehe das Smartphone aus meiner Tasche, das mir meine Jüngste zum Geburtstag geschenkt hat. Damit ich mich mit der Welt verbunden fühle, auch wenn ich nicht mehr so viel von der Welt sehe. Ich habe ihr gedankt, aber es hat mich verletzt. Ich habe von der Welt gesehen, was ich sehen wollte, ich habe Dinge getan, die ich unbedingt tun wollte. Es gibt nichts, was ich noch auf meiner Liste habe, was ich unbedingt tun muss. Ich habe getan, was mir Gott aufgetragen hat, ich habe Kinder in die Welt gesetzt, sie aufgezogen und mich um meinen Ehemann gekümmert. Ich bin eine liebende Mutter und war einen liebende Ehefrau.
Seit ich vor drei Tagen erfahren habe, dass Willy tot ist, geht mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, wie es wäre, zu sterben. Mich halten nur noch meine Kinder hier und die Liebe zum Meer, aber alles andere habe ich verloren. Meinen Mann, meine Freunde, mein Haus. Die Rente ist nicht gut und die ganze politische Situation im Moment lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Aber es gibt keine Hoffnung auf Besserung. Im Moment wird es nur alles schlechter und ich werde älter.
Bin ich gerade dabei, den Lebensmut aufzugeben?, frage ich mich selbst. Schäm dich!
Die Uhr auf meinem Handy zeigt 10:30 Uhr. Ich komme vermutlich zu früh, dafür, dass ich gar nicht bleiben will. Willy hat es mir ausgeredet. Er wollte nicht, dass ich mir das „dumme Geschwätz des Pfarrers“ anhören muss, er wollte nicht, dass ich sehe, wie sie ihn „in das Urnenloch werfen“. Er hielt nichts von einer kirchlichen Bestattung, aber seine Kinder haben darauf bestanden. Willy wollte in den Wind gestreut werden, am Meer, damit er im Sand und im Wind und in den Tiefen des Wassers weiterleben und wandeln kann. Dieser Wunsch wird ihm nur zum Teil erfüllt, denn nur ein Teil seiner Asche wird verstreut werden. Aber immerhin wird ihm so noch ein Teil seiner letzten Bitte erfüllt.
Der Wind bläst stärker und ich ziehe den Schal fester um meinen Hals. Ich werde das Gesteck an seiner Urne ablegen, bevor die Zeremonie beginnt. Ich werde seine Urne sehen, das Bild, das sie ausgewählt haben für die Trauerfeier. Aber ich werde keine Geschichten über Willys wilde Jugendjahre oder über seine Hochzeit zum Besten geben. Er wollte es nicht und ich ebenso wenig. Wenn ich seinen Kindern über den Weg laufe, werde ich ihnen mein Beileid aussprechen. Aber nicht mehr.
Meine Füße tragen mich zu der kleinen Kapelle, die an der Küste steht. Die Glocken läuten noch nicht, der Einzug beginnt erst in ein paar Minuten. Willys Kinder stehen vor der Kapelle und ich will mich nicht an ihnen vorbeischleichen, also gehe ich zu ihnen und spreche ihnen mein Beileid aus.
„Mum“, begrüßt mich der Älteste, und ich nehme meinen Sohn in den Arm. Es hat ihn schwer getroffen, dass sein Dad gestorben ist, so plötzlich und vor allem so kurz vor Weihnachten. Aber Willy hat Weihnachten geliebt, also wird er an seinem Lieblingstag beerdigt. Den anderen beiden Kindern spreche ich auch noch mein Beileid aus, dann husche ich in die Kapelle, lege mein Gesteck ab und werfe einen kurzen Blick auf das Bild, dass sie ausgesucht haben. Es zeigt Willy, wie er noch vor zwei Wochen am Strand saß, der Schal um seinen Hals und die Mütze auf dem Kopf. Das ist der Willy, den ich in Erinnerung behalten will. Der Strandmensch, der noch bei jedem Wetter aufgebrochen ist, um den Salzgeruch des Meeres in die Nase zu bekommen.
Ich trete aus der Kapelle, die Glocken fangen an, zu spielen und ich bin mir sicher, dass man den Klang noch ewig weit hören kann. Der Wind trägt ihn an der Küste entlang.
Meine Füße tragen mich weg von der Kapelle, den Weg zurück, den ich gekommen bin. Wieder schweife ich mit den Gedanken ab, aber in meinem Inneren finde ich meinen Frieden.
Willy war meine Jugendliebe, dann die Liebe meines Lebens und dann der Vater meines ersten Kindes. Aber er wurde eingezogen und musste seinem Land im zweiten Weltkrieg dienen. Frank heiratete mich, nachdem Ed auf der Welt war und ich ohne Mann und Mittel auf der Straße stand. Er war gütig und ich habe ihn geliebt, wahrhaftig.
Aber Willy blieb und bleibt die Liebe meines Lebens.
Ich bin bereits wieder ein ganzes Stückchen unterwegs, da laufe ich an der Familie mit den fünf Hunden vorbei, die so wie ich auf dem Rückweg sind. Vermutlich haben sie sich gefragt, warum man an Heiligabend schwarz trägt, aber die ältere Tochter scheint zu wissen, was ich gerade hinter mich gebracht habe. Sie blickt mich aus braungrünen Augen an und ihre Lippen verziehen sich zu einem angedeuteten, leichten Lächeln. Sie führt einen schwarzen kleinen Hund an der Leine, vermutlich ein Terrier oder so etwas. Ich muss lächeln, denn der Sturkopf erinnert mich an meine eigenen Hunde, die mich eine ganze Zeit lang jeden Tag am Strand begleitet haben.
Ich erkenne, dass Erinnerungen gut sind. Sie können helfen, die Wunden zu heilen, die noch frisch oder noch nicht ganz verheilt sind. Sie lassen uns die verlorenen Geliebten so im Gedächtnis behalten, wie wir sie zu ihren Lebzeiten erfahren durften. Und das allein ist ein Geschenk.
Ich laufe weiter, nach Hause. Heute Abend kommen meine und Willys Kinder zu mir nach Hause, und wir feiern Weinachten. Es wird nicht so ausgelassen und fröhlich sein wie die letzten Jahre, aber wir werden in Erinnerungen schwelgen und uns freuen, die verlorenen Seelen einmal in unserem Leben gehabt zu haben.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~Das hier ist etwas, das auf einer sehr wahren Begebenheit beruhen könnte. Ich selbst bin dieser Frau begegnet, auf genau solch beschriebem Weg.
Ich weiß nicht, ob sie ihren ehemaligen Schulkameraden oder ihren besten Freund beerdigte, aber sie war die Inspiration hinter dieser Geschichte voller Wehmut.Ich habe beschlossen, sie jetzt hier in diesem Band hochzuladen, da ich diesen ersten Entwurf, den ich noch am gleichen Tag innerhalb von 2 Stunden geschrieben habe, so gut und echt finde und alle Verbesserungen, Ergänzungen oder andere Herangehensweisen haben nie das Wunder erbracht, dass es gebraucht hätte, um diesen ersten, von Herzen aufrichtigen Entwurf zu übertrumpfen.
Deswegen lade ich euch das heute hoch, danke euch von ganzem Herzen für euren Support und hoffe, dass ich in den nächsten Monaten ohne Schule so einige Ideen ausarbeiten kann, die seit einiger Zeit in meinem Kopf wachsen und aufs Papier gebracht werden wollen.
Keep safe and send love! 🧡

DU LIEST GERADE
divers
Historia CortaEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...