Nachdem meine Schwester mir zustimmte, meine Meinung teilte und sich noch mehr als ich darüber aufregte, beschloss ich, dass dies ein Thema ist, worüber ich schreiben möchte. Um Zivilcourage, Mitgefühl und Verständnis unter uns, in der Gesellschaft einen Platz zu geben. Damit wir uns wieder einmal besinnen und das nächste Mal mehr darauf achte, wie es klingt, was wir sagen. Und darauf, was es für andere bedeutet.
Folgendes Szenario:
Ich besuche eine Fachakademie, die mich theoretisch zum Erzieher ausbildet. In dieser Fachakademie gestaltet sich der Unterricht ähnlich wie in den staatlichen Schulen, es werden feste Klassenverbände gebildet und die Schüler werden in unterschiedlichen Fächern unterrichtet. In diesem festen Klassenverband, der bereits fast zwei Jahre besteht, besucht Jemand den Unterricht, der seit Anfang des Jahres gegen Krebs kämpft und jetzt gerade noch Chemo durchläuft. Derjenige hatte nach vier Monaten Krankheit beschlossen, den Unterricht und die Ausbildung weiterzuführen und kehrte daraufhin zurück in den Unterricht.Ich fühle für alle, die eine schwierige Zeit durchstehen und die um ihr Leben kämpfen. Ich möchte keinem unterstellen, dass Chemo oder das Kämpfen gegen Krebs im Allgemeinen eine leichte Sache ist oder auf die leichte Schulter genommen werden kann. Ich unterstütze jeden, der trotz dieser schwierigen Umstände beschließt, das Leben nicht aufzugeben.
Dieser Jemand ist nun aber nicht sehr empathisch und hat aus den insgesamt 24 anderen Mitschülern zwei, die sich mit demjenigen beschäftigen. Dieser Charakterzug lässt sich durch eine Krankheit nicht ausradieren und man kann trotz der Krankheit leider auch nicht darüber hinwegsehen, dass diese Person einen sehr unfreundlichen Eindruck macht.
Wir hatten Werken und beschäftigten uns mit unseren eigenen Werken, unterhielten uns dabei und tauschten uns nebenbei auch über das im Moment allgegenwärtige Thema, die Facharbeit, aus. Diese dunkle Wolke hängt seit März über unseren Köpfen und ist ausschlaggebend dafür, ob wir unsere Ausbildung im September fortsetzen dürfen. Der Werkraum ist recht klein, die Tische stehen nicht weit auseinander und ich sitze in der Nähe Desjenigen, der sich ebenfalls in einem Gespräch über die persönlichen Probleme der Mitschüler befand. Ich überhörte den Gesprächsfetzen unfreiwillig und konnte danach an nichts anderes mehr denken.
Eine der zwei Mitschülerin schüttete ihr Herz darüber aus, wie sehr ihr die Facharbeit zu schaffen machen würde und wie viel Stress es für sie wäre, da sie wüsste, dass wir nur noch einen Monat bis zur Abgabe haben. Daraufhin erwiderte der Krebspatient in einem derart degradierenden Tonfall: „Ja, oh mein Gott, ich hab Krebs und mir geht’s gut, da ist die Facharbeit ja nichts dagegen. Das wirst du schon schaffen.“
Zur Klarstellung, worum es mir hier geht und warum es solch eine Empörung und Wut in mir hervorgerufen hat: Wir werden zu Pädagogen ausgebildet, die bedürfnisorientieren handeln und arbeiten sollen. Das bedeutet, wenn das Kind hinfällt, sich verletzt und weint, ist es nicht im pädagogischen Sinne, zu sagen: „Ach komm, so schlimm war das nicht, steh wieder auf.“ Stattdessen wenden wir uns dem Kind zu, fragen, wo es wehtut und kümmern uns darum, nehmen das Kind gegebenenfalls zur Beruhigung und Besänftigung auf den Schoß und nehmen das Problem des Kindes ernst. So wird es von uns erwartet, so sollte es von jedem Elternteil erwartet werden, so sollte es von unseren Mitmenschen erwartet werden. Etwas auf die Mitmenschen und auf deren Bedürfnisse achten, und nicht nur „ich, ich, ICH!“ schreien und seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen.
Wie bereits gesagt, ich habe großen Respekt vor denjenigen, die trotz schwerer Krankheit beschließen, das Leben weiterzuleben und nicht aufzugeben. Aber selbst Krebs rechtfertigt es in meinen Augen nicht, die Krankheit als das größte Problem von allen zu deklarieren und die Probleme der Mitmenschen als null und nichtig zu kategorisieren. Jeder hat das Recht, dass die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen werden, und jeder Stressfaktor hat das Recht, als eben solcher anerkannt zu werden. Einer kämpft gegen Krebs, daher erscheint alles andere als weniger schrecklich. Aber für denjenigen, der gerade eine Facharbeit, von der die weitere Ausbildung abhängt, schreibt, ist das der größte Stressfaktor. Und das ist in Ordnung.
Was sagst du dazu?

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Cerita PendekEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...