the day before Christmas

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Morgen ist Weihnachten. Heiligabend. Endlich können wir den Baum schmücken, die Kerzen anzünden und zusammen Lieder singen. So wie jedes Weihnachten. Ich freue mich darauf. Für mich ist es immer die schönste Zeit im Jahr, weil die ganze Familie überall her kommt und mit uns feiert. Und ich bekomme Geschenke. Alle lachen, alle sind glücklich. Keiner ist traurig. Keiner ist allein, weil wir alle zusammen sind.


Mama und ich haben gerade die letzten Geschenke für meine Cousinen und Cousins gekauft, meiner kleinen Nichte habe ich eine Spieluhr gekauft. Also eigentlich hat Mama sie ihr gekauft, aber ich werde sie ihr schenken. Das erste Mal, dass ich auch etwas verschenke. Meine Mama hat mir erklärt, dass das Christkind nicht jedes Jahr alle Arbeit allein machen kann und wir ihm etwas unter die Arme greifen können, indem wir unseren Lieben eine Freude machen und ihnen etwas schenken. Das sehe ich ein. Warum sollte ich nicht dem Christkind helfen, das schon jede Menge Arbeit hat, jedem Kind auf der Welt das richtige Geschenk zu machen?


Jetzt sitzen wir im Auto, im Radio läuft eins von den vielen Weihnachtsliedern, ich verstehe den Text nicht, aber mein Dad hat mir gesagt, dass dieses Lied von einer der erfolgreichsten Bands der Musikgeschichte ist. Ich weiß nicht mehr, wie sie heißen, aber ihre Musik klingt gut. Es klingt nach Weihnachten.


Wir sind in der Stadt und fahren Richtung Autobahn, damit wir nach Hause kommen. Die Musik ist eine andere, die Autos ziehen an meinem Fenster vorbei, der leichte Regen klatscht gegen die Scheiben. Mein Wunsch von weißen Weihnachten wird mal wieder nicht in Erfüllung gehen. Der Himmel sieht trüb aus, als würden die Wolken gar nicht mehr aufhören wollen. Es wirkt nicht wie Weihnachten, eher wie im Herbst, wenn die ersten kalten Tage kommen. Egal, ich werde mir meine Stimmung nicht vermiesen lassen. Ich freue mich schon darauf, wenn ich Magda mein Geschenk gebe und sie sich darüber freut. Wie sie vergnügt quietschen und in die Hände klatschen wird, wie es kleine Kinder nun einmal tun.


Der Radiomoderator kündigt auch für die nächsten Tage Regen und dicke Wolken am Himmel an. Nicht einmal kalt soll es werden. Unzufrieden runzle ich die Stirn und lehne sie gegen die kalte Scheibe, während das nächste Weihnachtslied aus den Lautsprechern kommt. Dieses Lied habe ich dieses Jahr schon so oft gehört, in allen möglichen Einkaufsläden und im Radio spielen sie diesen Song, dass ich ihn schon nicht mehr hören kann.


„Lenny", reißt mich meine Mama aus meinen Gedanken. „Kannst du gerade einmal in meiner Handtasche nach meinem Handy suchen und nachsehen, ob Papa etwas geschrieben hat?" Ich nicke und beuge mich hinunter in den Fußraum des Rücksitzes und greife nach der Handtasche. Ich sitze auf dem Rücksitz. Immer. Meine Eltern mögen es nicht, wenn ich vorne sitze, weil sie meinen, dass es zu gefährlich ist. Ich darf erst vorne sitzen, wenn ich 13 bin. Dahin fehlen mir noch ein paar Jahre. Ich ziehe die Handtasche neben mich auf den Sitz und öffne den Verschluss, krusche darin herum und angle schließlich nach dem gesuchten Handy. „Hier, Mama", will ich ihr das Handy reichen. Aber sie reagiert nicht. Ihr Kopf hängt irgendwie komisch zur Seite. „Mama!", rufe ich und versuche sie wachzurütteln, aber es wackelt nur ihr Kopf, sie selber reagiert nicht. Unruhig rutsche ich nach vorn, schüttle sie noch einmal. Sie reagiert nicht. „Mama!", schreie ich. Mein Blick rutscht nach draußen. Wir sind auf der falschen Spur, schießt es mir durch den Kopf, aber da tut es einen gewaltigen Knall. Ich werde nach hinten geworfen, mein Kopf schnellt nach hinten und ich stoße mir den Kopf am Autodach. Ich sehe nur noch verschwommen den Kopf meiner Mutter, der blutüberströmt zur Seite hängt und die kaputte Windschutzscheibe. Dann gewinnt der Schmerz in meinem Kopf die Überhand und mir wird schwarz vor Augen.



Morgen ist Weihnachten. Ich sitze zu Hause und beobachte, wie die kleinen Schneeflocken zu Boden fallen. Mein Dad schürt das Feuer im Ofen und setzt sich dann zu mir, streicht mir über die Haare und lässt die Hand auf meiner Schulter liegen. Ich werfe ihm einen wehmütigen Blick zu und er weiß, woran ich denke. Woran ich seit fünf Jahren an diesem Tag denke. An den Unfall, der sie umgebracht hat. Weil wir frontal in einen LKW gekracht sind. Die Tatsache, dass ich auf der Rücksitzbank saß, hat mir vermutlich das Leben gerettet, das haben mir die Ärzte im Krankenhaus gesagt.


Anfangs dachte ich bei mir, warum ich nicht vorne bei meiner Mutter saß, Dann wäre ich auch gestorben. Die Monate nach dem Unfall waren die Hölle. Meine Beine waren zertrümmert, innere Blutungen hatten einen gewaltigen Schaden verursacht. Meine Lunge war geschädigt, ich hatte ein Schädelhirntrauma. Und ich hatte meine Mutter verloren. Am Tag vor Weihnachten. Weil sie wegen einem Schlaganfall das Bewusstsein verloren und das Auto auf die falsche Fahrbahn geraten war.


„Sie fehlt mir auch", murmelt mein Dad und sieht mit traurigen Augen aus dem Fenster. Er hat die Liebe seines Lebens verloren, darum ist er umso glücklicher, dass ich ihm geblieben bin. Das sagt er mir so oft wie er kann und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich liebe meinen Dad. Weil er für mich gekämpft hat und mich wieder auf die Beine gebracht hat und mir gezeigt hat, dass das Leben auch mit zwei Prothesen an meinen Oberschenkelstummeln schön sein kann. Wir sind ein Dreamteam.


„Ich wollte sie heute noch besuchen gehen. Willst du mitkommen?", frage ich ihn, obwohl ich weiß, was er antworten wird. Er schüttelt den Kopf. „Ich habe sie hier drin", er klopft sacht auf sein Herz, „ich muss nicht an ihr Grab." Er lächelt sacht. „Aber du geh nur. Und grüß sie von mir." Ich nicke und stehe auf, schnappe mir meine Jacke vom Haken und mache mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Ich setze mir die Kopfhörer auf, die ich letztes Jahr von der Freundin meines Vaters zum Geburtstag bekommen habe, und starte die Weihnachtslieder-Playlist. Diese Lieder haben mir in den letzten Jahren einigen Mut gespendet und mir den Lebensgeist zurückgebracht. Ich habe den Unfall überlebt. Und ich habe die Monate danach überlebt. Ich steige aus und mache mich auf den Weg zum Bergfriedhof, wo wir meine Mutter beerdigt haben. Die kleine Bronze-Platte, die über ihrem Urnengrab in den Boden eingelassen ist, ist schon fast von dem Schnee bedeckt. Ich schiebe die Flocke zur Seite und betrachte ihren Namen, der dort eingraviert ist. Wie jedes Mal, wenn ich an ihrem Grab bin, überkommt mich eine Welle von Trauer und Liebe, die mich ins Herz sticht und mich aus dem Gleichgewicht bringt. Die Liebe siegt schließlich und erfüllt mich mit einem lebensbejahenden Gefühl, das mich antreibt, nicht stehenzubleiben, sondern weiterzugehen. Mein Leben weiterzuleben und nicht an der Vergangenheit hängenzubleiben, nicht an ihrem Tod hängenzubleiben, sondern ihr einen Platz in meinem Herzen einzuräumen und mit ihr durchs Leben zu gehen. Das ist es, was mein Vater geschafft hat. Und das ist das, worauf ich hinarbeite. Dass ich nur noch mit Liebe an meine Mutter zurückdenke und nicht mehr mit der Trauer, sie nicht mehr hier zu haben. Dass ich sie mit all ihrer Liebe und ihrem Mut und ihrer Lebenslust in meinen Erinnerungen leben lassen kann, ohne traurig an vergangene Kindheitstage zurückzudenken.


Ich liebe meine Mutter. Und ich vermisse sie. Es hat mir das Herz herausgerissen, als mein Vater mir mit Tränen in den Augen an meinem Krankenhausbett sagen musste, dass Mama es nicht überlebt hat. Er hat mir in die Augen gesehen und mir mit solch einer Überzeugung und solch einem Mut und purer Liebe versprochen, dass wir zwei es mit ihr in unseren Herzen schaffen werden.


Und jetzt stehe ich hier an ihrem Grab und lächle, lasse die Schneeflocken auf mein Gesicht fallen und lächle dem Himmel entgegen. Sie freut sich gerade auch sicher über den schönen Schnee.


Und mit diesem Gedanken werfe ich ihr in Gedanken noch einen Kuss zu und mache mich auf den Weg zurück über den Friedhof zur Bushaltestelle. Wir fahren heute noch zu Verwandten und feiern morgen mit ihnen Weihnachten. Und freuen uns, dass wir zusammen und glücklich sind.

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Ist zwar nicht die passende Jahreszeit aber was sollst?!😇😊
Hoffe, es gefällt!




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