afraid of tomorrow (1)

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Worte allein können nicht die Arbeit leisten, den Schmerz zu verstehen. Worte allein können ihn nicht wiedergeben. Es zu versuchen, wäre Heuchelei. Es braucht Gefühl und den Schmerz jedes Einzelnen, der die Worte liest. Jeder für sich muss seinen individuellen Schmerz mit einfließen lassen, um zu verstehen, was die Worte sagen wollen, was sie ausdrücken wollen. Einfühlvermögen ist das Stichwort.


„Hey.“
„Hey, Daniel hier. Wie geht’s dir?“
„Uns geht’s gut. Euch?“
„Super. Der Urlaub in die Karibik hat gut getan, nachdem Claire das letzte Jahr so viel Stress in der Arbeit hatte. Ihre Kanzlei wurde aufgekauft und der neue Boss hatte sie auf dem Kicker. Hatte ich dir das erzählt?“
„Nein, aber klingt nicht so nett. Dann war der Urlaub ja genau das Richtige für euch. Freut mich, dass es euch gut geht. Wie macht sich Sara?“
„Sie lernt gerade, zu laufen. Der Sand war da ein ganz großer Gegner, aber selbst den hat sie bezwungen.“ Er klingt so unglaublich stolz. „Sie ist ein Engel. Schläft viel und ist immer glücklich. Sie lässt sich einfach nicht unterkriegen. Und wir haben hier in der Gegend jetzt Eltern mit Kindern gefunden, die auch DownSyndrom haben und jetzt tauschen wir uns immer aus. Das hilft unglaublich.“ Und er klingt glücklich.
„Freut mich wirklich, dass es euch so gut geht.“
„Und wie geht es Mia im Kindergarten?“
„Sie macht sich gut, lernt gerade die anderen Kinder kennen, aber sie ist ja immer sehr offen und herzlich, ich denke nicht, dass sie Probleme haben wird, Anschluss zu finden. Daniel, ich muss mit dir sprechen.“
„Ja, klar. Was ist los?“ Im Hintergrund raschelt es, Kindergeschrei und Gelächter dringt durch die Leitung. Meine Augen füllen sich mit Tränen.
„Ich war mit Mia beim Arzt, weil sie in letzter Zeit so oft so starke Kopfschmerzen hatte. Ich war einfach nicht sicher, wie ich es einschätzen sollte“, rechtfertige ich mich.
„Ist doch in Ordnung, dass du dir Sorgen machst. Du bist ihre Mutter. Was hat der Arzt gesagt?“
„Er will nächste Woche einen MRT und EEG machen, um zu schauen, ob es wirklich am Kopf liegt, oder ob es vielleicht auch von Verspannungen vom Rücken her kommen könnte.“
„Okay, und bis dahin? Hatte er keinen früheren Termin frei?“
„Wir sollen ein Kopfschmerztagebuch führen. Nein, er hat uns überwiesen. Und der Spezialist hat eigentlich eine Warteliste, aber sie konnten sie dazwischenquetschen.“
„Das klingt gut. Willst du sie mir geben? Oder schläft sie schon?“
„Ich hab sie ins Bett gebracht, bevor du angerufen hast. Ich küsse sie für dich, okay?“
„Ja, danke.“ Kurz ist es still in der Leitung. „Ruf mich an, sobald ihr Ergebnisse habt, okay?“ Er klingt leiser.
„Ja, mach ich. Euch noch einen schönen Abend!“
„Danke, dir auch. Sag Mia, dass ich sie vermisse und dass ich sie bald wieder besuchen komme, okay?“
„Mach ich. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“

Ich lege auf, gehe in Mias Zimmer und küsse sie auf die Stirn.
„Papa liebt dich, mein Schatz.“
Sie murmelt im Schlaf, dreht sich auf den Bauch und schläft weiter. Und ich gehe in mein Schlafzimmer, um auch endlich in den Schlaf zu fallen.

ONE WEEK LATER
„Da ist sie ja, meine große Maus!“, begrüße ich sie am Kindergartentor. Glücklich strahlend kommt sie auf mich zugelaufen und wirft sich in meine ausgebreiteten Arme, damit ich sie herumwirbeln kann. Sie schwankt etwas, als ich sie wieder auf dem Boden abstelle. Aber sie grinst, nimmt meine Hand und springt neben mir her zum Auto.
Der Spezialist und seine Praxis sitzt nicht allzu weit weg, aber der Mittagsverkehr hält uns um einiges auf, sodass wir viel zu spät zu unserem Termin kommen. Die Arzthelferin am Empfangstresen schreckt auf, als ich durch die Tür haste, mit meiner Tochter auf dem Arm.
„Es tut mir schrecklich leid, dass wir zu spät sind! Mia Frey“, ergänze ich, als sie mich anlächelt. Sie tippt etwas auf ihrer Tastatur und hebt dann wieder den Kopf.
„Das ist überhaupt kein Problem, Frau Frey. Mia ist gleich die Nächste. Möchten Sie noch kurz im Wartezimmer Platz nehmen?“ Ich nicke dankbar und lasse mir die richtige Tür zeigen. Ich hänge unsere Jacken auf dem Kleiderständer auf und lasse mich dann mit Mia auf meinem Schoß auf einen dieser so steril aussehenden Stühle sinken. Ich drücke ihr einen sanften Kuss auf den Kopf. Sie ist aufgeregt. Sie ist so still. So ist sie immer, wenn sie aufgeregt ist. Oder eingeschüchtert.
„Mia, alles wird gut. Das tut nicht weh. Das dauert nur ein bisschen. Und der Apparat macht ein paar komische Klackgeräusche, aber das ist nicht schlimm.“ Sie nickt an meiner Brust. Ihr krauses Haar kitzelt mein Kinn. „Hast du noch deine Ohrringe drin? Oder dein Armband um?“ Sie nickt wieder. „Dann lass sie uns mal abmachen. Der Apparat mag die nämlich nicht. Der frisst die.“ Sie kichert leise, dreht sich zu mir um und lässt sich die Steckerohrringe ausziehen. Ihr süßes Armband, das sie von ihrem Vater zum vierten Geburtstag geschenkt bekommen hat, zieht sie sich vom Handgelenk. Das dürfte das erste Mal sein, dass sie es auszieht.
„Mama, was machen die dann?“ Ich drehe sie auf meinem Schoß um, sodass ich sie ansehen kann. Ihre kleinen Augen strahlen nicht. „Du musst keine Angst haben. Du bekommst so einen hübschen Kittel und dann ziehst du dich aus und ziehst den Kittel über und …“ „Alles ausziehen?“ Ihre Augen blicken mich entrüstet an. „Nein, nur dein Tshirt und die Hose und die Schuhe.“ Ich lächle sie an. Sie grinst zurück. „Und dann darfst du auf eine Liege klettern und dich da hinlegen. Und dann musst du ganz still halten.“ „Warum?“ „Weil man sonst kein gutes Bild von diesem hübschen Kopf hier“, ich tippe sanft gegen ihre Locken, „machen kann.“ Sie kichert. „Du bekommst eine Decke, die ein bisschen schwer, aber das ist auch nicht schlimm. Und dann wirst du in diesen Apparat reingeschoben.“ Ihre Augen werden groß. „Er sieht aus wie ein Rohr, aber eigentlich ist er eine Höhle. Und du liebst ja deine Höhlen.“ „Ja!“ „Gut.“ Ich grinse sie an, weil sie mich angrinst. „Und dann liegst du da ein bisschen und die Höhle macht ein paar komische Geräusche und dann bist du fertig. Und dann hast du ein wunderschönes Foto von deinem hübschen Kopf.“ Ihre kleinen Finger spielen mit den Aufschlägen meiner Stoffjacke. Sie ist nervös. Natürlich. „Ich lieb dich, kleiner Engel“, wispere ich und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schlingt, nach einem kurzen, intensiven Blick aus ihren Augen, ihre Ärmchen um mich und atmet auf.
„Mia, du bist dran“, ruft die Praxishilfe uns auf und begleitet uns lächelnd in das Umkleidezimmer, in dem Mia ihre Klamotten lassen kann. „Mia, deine Mama kann nicht mit den Raum, wo wir deinen Kopf untersuchen. Aber in der Maschine ist ein Spiegel, und deine Mama kann sich so in den Nachbarraum stellen, dass du sie die ganze Zeit im Spiegel sehen kannst, okay?“ Sie nickt, eingeschüchtert von dem Gedanken, wirklich ganz allein in dieser Röhre in diesem Raum zu sein. Ich drücke ihre Hand, ermutige sie und gebe ihr einen Kuss auf den Kopf, bevor sie mutig, an der Hand der Praxishelferin, den Raum mit der MRT-Maschine betritt. Ich gehe in den kleinen Nebenraum und lasse mir zeigen, wo ich mich hinstellen muss. Mia kann mich durch das Glas sehen, winkt mir zu, als sie schon auf der ausfahrbaren Liege liegt und grinst, als ich ihr die Zunge rausstrecke. Hoffentlich bekommt sie in der Röhre keine Platzangst.
Aber es läuft alles wunderbar. Sie hält die ganze Zeit ohne Ermahnung still, sie wird nicht hysterisch und als sie auf der Liege wieder aus der Maschine herausfährt, grinst sie breit, stolz auf sich selbst. Ich grinse zurück, strecke beide Daumen in die Höhe und begleite sie und sie Schwester zurück zum Umkleideraum.
„War doch jetzt gar nicht schlimm, oder?“, frage ich sie und sie schüttelt den Kopf. „Die Geräusche waren lustig“, ist alles, was sie dazu noch sagt.
„Kommen Sie einmal mit zur Besprechung?“ Der Arzt hat von hinten aufgeholt und geht vor mir her, am Wartezimmer vorbei, während die Arzthelferin Mia an der Hand nimmt und mit ihr in die Vorhalle zurückgeht. Vermutlich, um sie in der Spielecke zu beschäftigen. Irgendwann biegt der Arzt nach links vom Flur ab und bietet mir einen Stuhl vor seinem Schreibtisch in seinem Behandlungszimmer an. „Ich ziehe es immer vor, erst die Eltern zu informieren, bevor die Kinder wissen, was los ist“, informiert er mich und ich nicke stumm. Mein Herz pocht mir bis zum Hals. Wenn es gute Nachrichten sind, warum macht er es dann trotzdem so? Oder haben sie etwas gefunden?
„Wir hätten morgen noch einen EEG gemacht, wenn wir jetzt nichts gefunden hätten. Aber das haben wir leider.“ Mir sackt der Magen in die Kniekehlen. Übelkeit macht sich in mir breit. Seine entschuldigenden Augen ruhen kurz auf mir, bevor sie sich auf seinen Computerbildschirm richten. Er dreht er ihn mir zu. Vor mir habe ich das MRT-Bild von Mias Kopf. Ich kann nichts dazu sagen, weil ich nicht weiß, ob ich etwas sehe, was normalerweise nicht da ist oder eben schon. Sein Finger rutscht auf dem Bildschirm zur Mitte des Bildes. Dort, wo beide Gehirnhälften abschließen. „Hier kann man eine Geschwulst erkennen, die nicht da sein sollte. Es ist noch etwas früh, um eine hundertprozentige Diagnose auszusprechen, aber ich spekuliere auf Gehirnstammkrebs.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich fühle mich wie eingefroren. Mein Blick löst sich nicht von dieser Aufnahme auf dem Bildschirm, wo ein Knubbel zu sehen ist. Der da nicht sein sollte.
„Frau Frey.“ Mein Blick flackert zum Arzt. Er versucht sich an einem kleinen, aufmunternden Lächeln. „Wir haben ihn jetzt schon erwischt. Wir werden noch einen MRT machen, diesmal mit Kontrastmittel, damit wir den Knaben etwas näher studieren können. Nächste Woche. Wenn wir soweit sind, machen wir eine Autopsie, um zu sehen, ob der Tumor“, fährt er fort, aber bei diesem Wort schluchze ich auf. Meine kleine Maus hat einen Tumor in ihrem Kopf. „Wir machen die Autopsie, um zu sehen, ob der Tumor gut- oder bösartig ist. Sobald die Laborergebnisse wieder vorliegen, und es sich tatsächlich um ein bösartiges Geschwür handelt, werden wir über Möglichkeiten, wie wir den Burschen wieder loswerden, diskutieren.“ Ich ziehe ein Taschentuch aus meiner Handtasche und wische mir über die Augen. Den Tumor wieder loswerden. „Chemo?“ „Das ist eine von mehreren Optionen. Aber jetzt lassen Sie uns erst den MRT mit Kontrastmittel machen, damit wir sehen, ob der Kerl nicht operabel zu entfernen ist. Bevor wir über Chemo nachdenken. „Sollen wir Mia reinholen und es ihr erklären?“ „Sie meinen, Sie erklären?“, frage ich unter Tränen. Er nickt verständnisvoll. „Natürlich.“ Er steht auf, öffnet die Tür zum Gang und verschwindet. Ich höre sie lachen, als sie durch den Gang läuft.
Und dann sitzt sie neben mir vor dem Schreibtisch, schaut mich aus diesen großen, unschuldigen Augen an und weiß nicht, was auf sie zukommen wird. Sollte das Geschwür in ihrem Kopf bösartig sein. „Hey Süße“, lächle ich sie an, aber sie runzelt die Stirn und legt ihre Hand an mein Gesicht. „Weinst du, Mami?“ Ich schüttle zaghaft den Kopf, will aber den Hautkontakt nicht unterbrechen. „Nein, meine Süße. Alles wird gut, weißt du noch?“ Sie nickt, jetzt wieder unbesorgt. Ihre kurzen Beinchen baumeln vom Stuhl, während sie noch darauf wartet, dass sich der Arzt hinter seinen Schreibtisch setzt. Ihr aufmerksamer Blick liegt auf ihm, als er zu sprechen beginnt.
Er erklärt ihr, was er mir erklärt hat. Geht sicher, dass sie versteht. Antwortet auf ihre verwirrte Frage, was bösartig bedeutet. Was Tumor bedeutet. Was ein Kontrastmittel ist. Und Chemo. Mir treibt es neue Tränen in die Augen, dass sie sich in diesem Alter mit solchen Dingen beschäftigten muss. Dass sie versuchen muss, zu verstehen, was in ihr passiert und was unternommen wird, um zu verhindern, dass sie vielleicht stirbt. Ich schlucke meine Tränen hinunter. Ich kann nicht vor ihr weinen. Ich bin ihre Mum, ich muss stark für sie sein, wenn sie es nicht sein kann. Ich nehme ihre Hand, halte ihren Blick fest und sehe Verwirrung. „Süße, verstehst du alles?“ Sie schüttelt den Kopf. „Das ist nicht schlimm. Ich erkläre dir alles nochmal, sobald du was wissen möchtest, okay?“, bietet der Arzt an. Sie nickt, blickt wieder ihn an und lächelt. „Danke, Doktor!“ Er lächelt ihr entgegen und begleitet sich mit verabschiedenden Worten zur Praxistür.
Es regnet, als wir nach Hause fahren, über die verstopfte Autobahn und Umfahrungen übers Land. Eine unglaubliche Traurigkeit hat mich befallen, aber ich bekämpfe sie. Noch ist nichts gesagt, noch ist nichts sicher. Vielleicht ist es gutartig und man kann es entfernen. Hoffentlich. Mia ist still. Sie starrt aus dem Fenster auf die verregnete Landschaft. Ihre Hände liegen auf ihren kleinen Oberschenkeln. Ich beobachte sie aus dem Rückspiegel, um herauszufinden, was sie denkt oder fühlt, aber ihr Gesichtchen ist nur verschlossen, nachdenklich. „Schätzchen, wenn du Fragen hast, können wir gerne darüber reden, okay?“ Sie nickt nur und wendet ihren Blick nicht von der Aussicht vor dem Fenster.
Ich stelle den Radio an, höre Musik und lasse sie mit ihren Gedanken allein. Ich hoffe, sie kommt zu mir, wenn sie nicht mehr allein darüber nachdenken will. Ich muss Daniel anrufen, fällt mir ein. Ich muss ihm sagen, dass der Arzt etwas gefunden hat. Dass etwas dagegen getan wird.
„Dein Papa und ich haben dich lieb, mein Schatz.“ Jetzt begegnen ihre Augen meinem Blick im Rückspiegel. Sie lächelt, „Ich hab euch auch lieb.“ 

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