lost

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#caution: Mord

Es klingelt an der Tür. Ich antworte an der Gegensprechanlage. „Hallo?" „Mary, wir müssen reden." „Ich will nicht mit dir reden." „Bitte. Lass mich rein." „Du darfst dich mir nicht auf 400 Meter nähern, schon vergessen?" „Bitte, Marina. Wir müssen das klären. Du kannst doch nicht immer vor mir davonlaufen." Ich lache auf. Bitter. „Wehe, du fasst was an", drohe ich nur und drücke auf den Türöffner. Ich gehe in die Küche, spüle mein Geschirr weiter ab. Gottseidank ist May in der Schule, das hier muss sie wirklich nicht mitbekommen.
Ich höre, wie er die Wohnungstür öffnet und sie ins Schloss drückt. Ein etwas seltsames Gefühl befällt meinen Magen. Verdammt. Ich drehe mich zur Küchentür, behalte sie im Blick. Er taucht im Türrahmen auf. Seine Augenringe sind dunkler denn je, seine Klamotten hängen an ihm wie ein Sack an einem Kleiderständer. Er hat abgenommen. Sein Gesicht ist aschfahl, seine Schuhe starren vor Dreck, bemerke ich, als er auf mich zu um die Kücheninsel herumkommt. Seine Augen sind starr und leer und sie jagen mir Angst ein. Er kommt direkt auf mich zu, scheint nicht einmal zu blinzeln, seine wimperlosen Augenlieder hängen tief. Als er nur noch einen Meter von mir entfernt ist, springt er auf einmal auf mich zu, drängt mich mit der Hüfte zurück an die Küchenzeile und legt mir beide Hände an den Hals. Kräftig drückt er zu und mir bleibt die Luft weg. Ich bin wie erstarrt, kann mich nicht bewegen, kann keinen klaren Gedanken fassen. Dann beginnt das Adrenalin durch meine Adern zu pumpen und mir kommt nur eines in den Sinn: Rette dich! Werde ihn los! Wehr dich! Er will dich umbringen! Ich bekomme immer noch keine Luft und er blickt mir in die Augen. Seine Mundwinkel hängen herunter, aber ich kann den Ansatz eines Lächelns sehen, und Hass blitzt in seinen Augen auf.
„Das ist dafür, dass du mich von meiner Tochter fernhalten wolltest! Und dafür, dass du mich aus unserem gemeinsamen Leben geschmissen hast! Dass ich jetzt auf der Straße leben muss!" Ich röchle, lege meine Hände auf seine Arme und versuche, meinen Hals von seinem Würgegriff zu befreien, aber ich scheitere. Er ist zu stark. „Wie sehr ich mich hierauf gefreut habe! Zu sehen, wie du zugrunde gehst! Endlich, nachdem du mir so viel angetan hast!" Er ist krank, kommt mir in den Sinn. Er ist einfach krank.
Etwas in meinem Kopf macht klick. In meinen Augenwinkeln wird es langsam schwarz, mein Blickfeld wird immer kleiner. Mach jetzt was oder du bist tot!, schreit mich mein Verstand an. Ich löse eine Hand von seinem Arm und taste nach rechts hinter mich, erinnere mich, dass ich mein Brotmesser gerade zum Abtrocknen neben das Waschbecken gelegt habe. Meine Finger schließen sich um den Griff. Ja! Ich kann es schaffen. Mein Kopf beginnt zu hämmern, Kopfschmerzen erreichen mich, ich weiß, dass ich kurz davor stehe, mein Bewusstsein zu verlieren. Ohne weiter darüber nachzudenken, was ich gleich tun werde, ziehe ich meine Hand mit dem Messer hinter dem Rücken hervor, hole etwas aus und steche ihn in die Seite. Ich sehe nicht, wohin, ich höre nur ein Knirschen. Ich sehe ihm in die Augen, sehe, wie sich seine starren Pupillen mit einem Mal weiten, wie seine Augen groß werden. Sein Griff um meinen Hals erschlafft, seine Hände fallen herunter. Aufkeuchend fasse ich mir an die Kehle, spüre mein Blut pochen, lache kurz auf. Dann kippt er um, knallt mit dem Kopf auf die Kücheninsel und rutscht zu Boden. Und da ist Blut. Das Messer steckt irgendwo zwischen seinen Rippen, das schmutzige Hemd färbt sich rot. Auf dem Boden ist Blut. Ich röchle, mir ist schlecht, er starrt mich an, er blinzelt nicht. Er bewegt sich nicht.
Oh Gott, was habe ich getan? Was mach ich jetzt? War es Notwehr? Ja, du dumme Kuh, sonst würdest du jetzt da unten liegen!
Meine Hand tastet nach meinem Handy, es rutscht mir aus den Fingern. Ich zittere, bekomm es nicht zu fassen. Ich muss die Polizei rufen, muss eine Aussage machen. Ich muss May von der Schule abholen.
Ich sehe an mir herunter. Blut auf meiner Bluse. Ich kotze. Ich würge und würge und übergebe mich auf den Fußboden. Mit zittrigen Fingern öffne ich mein Handy, wähle die Notrufnummer 110 und stelle den Lautsprecher auf laut. Irgendjemand in irgendeiner Zentrale meldet sich und fragt.
„Ich ... ich habe jemanden umgebracht. Meinen Exmann. Er wollte mit mir reden und ich habe ihn in die Wohnung gelassen. Er hat mich gewürgt."
„Okay, okay, ganz ruhig. Wie ist Ihr Name, wo wohnen Sie?" Ich nenne meine Adresse. „Ich heiße Marina Baye."
„Sind Sie allein in der Wohnung?" „Ja. Meine Tochter ist in der Schule. Oh Gott. May!" „Wir kümmern uns darum, machen Sie sich keine Sorgen. Ich schicke eine Streife und einen Krankenwagen los. Atmet Ihr Exmann noch?" Ich zittere. Mir ist schlecht und schwindlig und übel. „I ... Iich weiß nicht." „Hat er einen Puls?" Ich übergebe mich. „I .. ich weiß nicht." „Bitte überprüfen Sie, ob er noch einen Puls hat." Ich würge. „Okay", bringe ich krächzend hervor.
Langsam, ganz langsam, den Atem anhaltend, beuge ich mich zu ihm herunter und strecke meine Hand nach seiner Halsschlagader aus. Seine Augen blicken immer noch starr, ich glaube, er ist tot. „Es tut mir leid", flüstere ich, und mir kommen die Tränen. Mein Finger presst sich auf seinen Hals, spürt die Ader, aber keinen Puls. Ich spüre keinen Puls. Ich schluchze. Ich habe meinen Mann umgebracht. Exmann, verbessert mich mein Gewissen, aber für mich ändert das nichts. Ich habe jemanden getötet.
Ich richte mich wieder auf und wende mich dem Telefon auf der Küchenzeile wieder zu. „Er ist tot." Mehr als ein Hauchen kommt mir nicht über die Lippen. „Okay, bleiben Sie, wo Sie sind, ich habe meine Leute schon auf den Weg zu Ihnen geschickt. Bleiben Sie bei mir, bis sie bei Ihnen sind." Ich nicke, bis ich bemerke, dass die Frau am anderen Ende der Leitung das ja gar nicht sehen kann. „Okay."
Sie frägt mich ein paar Sachen, vermutlich, um sicherzugehen, dass ich nicht weggehe. Ich antworte, befinde mich hinter einem Vorhang aus undurchdringlichem Nebel. Mein Kopf ist ein reines Schlachtfeld, mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Ich sinke auf den Boden. Ein widerlicher Schmerz pocht in meinem Kopf, macht es mir unmöglich, konzentriert zu bleiben.
„Sind Sie noch da?" Ich will antworten, kann aber nicht. Ich möchte den Mund öffnen und etwas sagen, aber mir kommt nichts über die Lippen. Stattdessen hüllt mich ein angenehmes Gefühl ein, Leichtigkeit, eine Decke aus unglaublich weichen Daunen. Mein Kopf kippt zur Seite, mein Blick fällt auf das mit Blut befleckte Messer, das in seiner Seite steckt.
Alles wird schwarz. Vergessen.

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  eine sehr düstere Geschichte ... freue mich über Feedback zur Art solcher Geschichten!

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