„Okay, mein Schatz, jetzt geh ins Bett, es ist schon spät. Ich komme nachher in dein Zimmer und gebe dir einen Kuss, wenn ich Zuhause bin, versprochen!“
„Oki Mami! Gute Nacht! Ich hab dich lieb!“
„Ich liebe dich auch, mein Schatz. Gib mir Papa nochmal, okay?“Mia ruft mit ihrer Kinderstimme nach ihrem Vater, bevor sie wieder in den Lautsprecher atmet.
„Mami, wann bist du wieder Zuhause?“
„Ich bin Zuhause, sobald du eingeschlafen bist.“Ich kann die kleine Maus grinsen hören, bevor sie das Telefon an meinen Freund abtritt.
„Babe, fahr vorsichtig, okay?“
„Ja, mach ich doch immer.“
Ich muss lächeln. Ich liebe ihn einfach.
„Ich liebe dich. Geh schon mal ins Bett, ich weiß nicht, wann ich ankomme.“
„Ich liebe dich auch. Ich vermisse dich.“
„Bis nachher.“
„Bis nachher.“Ich lege auf und starte den Motor. Der Tank ist voll, es ist zehn Uhr abends und ich habe noch 200 Kilometer nach Hause. Kurz nach Mitternacht sollte ich zu Hause sein, wenn nicht noch etwas dazwischenkommt.
Ich fahre auf die Parkplatzausfahrt und gebe Gas. Der LKW bremst etwas ab, ich bedanke mich und ordne mich vor ihm auf der rechten Spur ein. Ich bin kein Fan von aufregenden Überholmanövern und es ist dunkel, also stelle ich mich darauf ein, die 200 Kilometer mit 100 km/h hinter mich zu bringen.
Ein paar, die es eilig haben, rauschen mit 160 Sachen an mir vorbei. Ich habe die Heizung nur auf niedriger Stufe laufen, sonst werde ich zu schnell müde. Ich habe noch 98 Kilometer, als das Auto auf einmal mehr und mehr nach rechts zieht. Ich muss gegenlenken, um nicht gegen die Leitplanke zu fahren.
Ich halte auf dem Standstreifen, schalte die Warnleuchten an und suche meine Warnweste. Ich muss mich sichtbar machen. Ich suche mein Warndreieck und steige aus, gehe die vorgeschriebenen 150 Meter zurück, um frühzeitig auf mein liegengebliebenes Auto aufmerksam zu machen. Es ist stockdunkel, nur die Taschenlampenfunktion meines Handys spendet Licht. Zurück an meinem Auto steige ich wieder in mein Auto. Dafür, dass ich mich eine halbe Stunde nach draußen hinter die Leitplanke stelle, ist es zu kalt. Der Wind weht, das Auto ruckelt leicht und unter den Böhen. Ich habe den Motor ausgestellt, will mir den Sprit sparen. Ich will nicht noch mehr Zeit als nötig verlieren. Ich will nach Hause zu meiner Familie.
Ich rufe den mir bekannten, für dieses Bundesland zuständigen Pannendienst an und der Angestellte, den ich am Telefon erreiche, versichert mir, dass sie in einer halben Stunde bei mir sind. Ich bedanke mich und lege auf. Erleichtert lehne ich mich in meinem Sitz zurück, stelle die Standheizung an und warte.
Ich stelle das Standlicht an, damit man mich noch besser erkennen kann, denn draußen ist es dunkel. Der Wind hat ein paar dicke Wolken zusammengetrieben und vor den Mond geschoben, sodass die Nacht noch unheilvoller und gespenstischer erscheint.
Zehn Minuten vergehen wie eine Ewigkeit und nach einer halben Stunde ist kein Pannendienst hier. Ich schalte die Heizung höher, das Auto kühlt so schnell aus und langsam aber sicher beschlagen die Fenster.
Ich schalte das Radio ein, versuche mich abzulenken. Ich habe keine Decke dabei und langsam wird es wirklich ungemütlich.
Nach einer Dreiviertelstunde ist immer noch keiner da gewesen, nach einer Stunde kreuzt auch keiner auf. Langsam werde ich unruhig. Ich stehe hier auf einer Autobahn, die um diese Uhrzeit so gut wie nicht befahren ist, ich warte bei widerlichen Temperaturen auf meinen Pannendienst und langsam mach ich mir Sorgen um die Autobatterie und den Sprit.
Nach eineinhalb Stunden wird es mir zu viel und ich beschließe, das nächstbeste Fahrzeug anzuhalten.
Vielleicht habe ich den falschen Autobahnabschnitt angegeben oder dem Pannendienst ist etwas dazwischengekommen, aber ich kann nicht mehr länger warten. Ich muss nach Hause.Als ich endlich im Rückspiegel ein Licht aufblitzen sehe, bin ich überglücklich und so erleichtert, dass ich aus meinem Auto aussteige. Meine Verzweiflung treibt mich dazu, mich entgegen jeder Vorschrift neben mein Auto zwischen den Standstreifen und die rechte Fahrspur zu stellen. Ich will Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich will hier weg.
Ich beginne, mit den Armen zu fuchteln, zu springen, zu rufen, obwohl ich weiß, dass man mich nicht hören kann. Ich glaube zu erkennen, dass die Lichter zu einem LKW gehören. Das hält mich nicht davon ab, weiterhin zu versuchen, mich bemerkbar zu machen. Durch das Rauschen des Windes höre ich die typischen Lastwagen-Motoren-Reifen-Geräusche.
Ich werde hysterisch, als das Gespann immer näher und näher kommt. Aus einem Impuls heraus laufe ich auf die Fahrbahn, wedele mit den Armen, gehe davon aus, dass man mich gesehen hat.
Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass der Bremsweg ein so kurzer ist. Und als ich realisiere, dass er nicht mehr frühzeitig bremsen kann, ist es schon zu spät.Der Aufprall wirbelt mich durch die Luft und ich lande irgendwo auf der Straße. Ich spüre nichts. Keinen Schmerz. Ich höre Reifen quietschen und ich höre ein ekelhaftes Knacken, aber ich kann es nicht zuordnen. Mein Blick ist starr nach oben gerichtet, ich nehme nichts anderes wahr.
Für einen Moment schiebt der Wind eine Wolke zur Seite, die den Mond verdeckt. Da liege ich, auf dem Asphalt und der Mond scheint auf mich herab. Episch, oder? Der Asphalt unter mir ist hart und der Wind streicht über mich wie eine erfrischende Brise an einem heißen Sommertag.
Ich muss an diesen Sommer denken. Wie Mia und ich so oft Eis essen waren. Wie oft wir ins Freibad gegangen sind, weil die Temperaturen immer höher geklettert waren.Ich vermisse Mia. Ich will zu ihr. Ich will ihr sagen, dass es mir gut geht. Ich will nach Hause. Ich sehe meinen Freund vor mir, wie er mich letztes Jahr mit seinem Umzug in meine Wohnung überrascht hat. Sein glückliches Gesicht, seine strahlenden Augen. Sein Lachen, als er mein überraschtes Gesicht gesehen hat.
Der Moment, als wir uns das erste Mal gesehen haben, kommt mir vor, als wäre es vor Ewigkeiten gewesen. Ich war mit meinem Date im Kino und da war er am Schalter. Und der Blick, den er mir zugeworfen hat, ließ meine Welt für ein paar Sekunden anhalten. Deswegen ist er der Vater meines Kindes.
Wenn ich tot bin hat Mia noch ihn. Und er liebt sie über alles. Er wird auf sie aufpassen und stolz auf sie sein, wenn sie ihr Abitur geschafft und zu studieren anfängt. Er wird auf sie aufpassen und sie vor den falschen Typen beschützen.
Was würde ich nicht dafür tun, wieder zu ihm zu kommen. Aber ich habe den Eindruck, dass das nicht passieren wird. Irgendetwas Warmes läuft mir über die Stirn und fast in die Augen.
Aber das kümmert mich nicht.Wer wird sich um meine kranke Mutter kümmern, wenn ich nicht mehr da bin?
Mein Schatz wird sich darum kümmern, da bin ich sicher. Sie ist für ihn wie eine zweite Mutter.Ich liebe ihn.
Ich will ihn wiedersehen. Und Mia. Und meine Mom. Ich will ihnen sagen, dass ich nie vorhatte, sie so früh zu verlassen.
Bilder blitzen vor meinen Augen auf, Momentaufnahmen der letzten Jahre.Mias Geburt, ihr erster Geburtstag, die Diagnose meiner Mum, der Tod meines Dads, mein Heiratsantrag von meinem Schatz an einem der schönsten Orte auf der Welt. Das erste Mal, als wir uns sagten, dass wir uns lieben. Unser erstes Mal. Der Moment, als klar wurde, dass ich schwanger bin. Die Freude meiner Mum über ein Enkelkind. Der letzte Geburtstag meines Vaters. Das erste Kinderlied, an das ich mich erinnern kann und das ich Mia immer zum Einschlafen vorgesungen habe. Mein Kinderzimmer. Mein Elternhaus. Mein erster Hund, den ich über alles geliebt habe. Meine Einschulung. Mein erster Freund. Meine Hochzeit.
Mias leuchtendes Gesicht, als sie ihre Geschenke an Weihnachten öffnet. Die tränennassen Augen meines Schatzes, als ich ihn geheiratet habe. Meine Mutter, die so stolz auf mich ist. Mein Dad, der außer sich vor Glückseligkeit sein kleines Enkelkind in den Armen hält.
Ich, wie ich auf einer kalten, dunklen Straße liege und verblute.Und dann ist es vorbei.
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divers
Short StoryEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...