Wenn man mich fragen würde, wann ich aufgehört habe, in ihn verliebt zu sein, dann könnte ich keine Antwort geben. Es scheint schon so viel Zeit vergangen zu sein, dass ich nicht mehr sagen kann, wann es das letzte Mal war, dass wir miteinander geschlafen oder uns geküsst haben.
Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Eine Ewigkeit zu lang. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir unsere Ehe noch retten können. Wir kennen uns zu lange, wir kennen uns zu gut, wir sind schon zu lang miteinander verheiratet. Wir wissen nicht mehr, wie es geht, dass man einen Abend miteinander verbringt und sich dabei nur in die Augen sieht. Jetzt verstecken wir uns hinter unseren Bildschirmen, um uns nicht ansehen zu müssen. Wir wissen nicht mehr, wie man den anderen überraschen kann. Wir kennen uns nicht mehr, weil wir uns zu gut kennen.
Und ich habe das Gefühl, dass er sich eingesperrt fühlt. Vielleicht hat er sich inzwischen auch anderweitig nach einem Sex-Partner umgesehen und ich könnte es ihm nicht einmal übelnehmen. Tief in meinem Inneren weiß ich, warum wir seit mehr als 15 Jahre nicht mehr miteinander geschlafen haben, warum er mich nicht mehr küssen will. Angesprochen habe ich es noch nie. Jetzt möchte ich nur, dass er glücklich ist. Dass er das aus seinem Leben macht, was er immer machen wollte. Aber jetzt sitzt er hier mit mir in dieser Wohung und starrt in sein Handy. Als wäre er auf der Suche. Als wäre er rastlos. Ich will nicht der Grund sein, dass er so sein restliches Leben verbringt.
„Frank.“ Er schaut auf, seine wasserblauen Augen sehen für einen Moment orientierungslos durch mich hindurch, als wäre er gerade aus einer Traumwelt aufgewacht.
„Sollen wir uns trennen?“, frage ich ihn gerade heraus. Vor Überraschung ziehen sich seine Augenbrauen in die Höhe und er reißt seine Augen weit auf.
„Was sagst du?“, fragt er nach, vermutlich um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben.
„Ich frage dich, ob du dich von mir scheiden lassen möchtest.“
„Warum fragst du mich so etwas?“, fragt er irritiert und schüttelt nur den Kopf, bevor er sich wieder seinem Handy widmet. Ich will ihn nicht drängen, und er soll auch nicht denken, dass ich ihn loswerden will.
„Denk einfach einmal darüber nach, ja?“
Ich stehe auf und verlasse die Küche, setze mich im Wohnzimmer auf die Couch und stellen den Fernseher an. Wir haben uns in den vergangenen Wochen ein Netflex-Abonement gekauft, unsere Tochter hatte uns zu diesem Glück gezwungen. Und vielleicht muss genau auch das mit Frank passieren. Vielleicht muss er zu seinem Glück gezwungen werden.
Ich lehne mich in die weichen Polsterkissen zurück und beginne die nächste Folge einer spanischen Serie, die ich gerade für mich entdeckt habe. Ich genieße es, wieder einmal in den Genuss meiner Muttersprache zu kommen, da gibt die Couch neben mir nach und Frank setzt sich zu mir. Er legt den Arm um mich, wie er es schon lange nicht mehr getan hat.
„Denkst du wirklich, das wäre eine gute Idee?“, fragt er leise.
Ich schalte den Fernseher stumm und wende mich meinem Mann zu, der mich aus ängstlichen und besorgten Augen ansieht.
„Warum sollte es das nicht sein?“, antworte ich mit einer Gegenfrage und ernte nur eine hochgezogene Augenbraue.
„Warum sollten wir uns nach 30 Jahren trennen?“
„Weil ich nicht noch länger so selbstversessen sein möchte und dich davon zurückhalten, das zu tun, was du seit Jahrzehnten tun möchtest, weil du weißt, dass es dich wirklich glücklich machen würde.“
„Und was soll das sein?“
Ich sehe ihn für einen Moment an, suche in seinen Augen nach der Antwort und finde sie.
„Frank, du wolltest immer auf Reisen gehen. Das kannst du mit mir nicht. Du wolltest eine Triologie schreiben, aber dafür fehlt dir hier die Inspiration. Und du solltest endlich denjenigen Menschen lieben, den du lieben möchtest. Ich weiß, dass wir uns über die Jahre arrangiert haben, aber es macht dich nicht so glücklich, wie due es sein könntest, wenn du frei wärst.“
„Was redest du da? Ich bin glücklich mit dir!“
„Frank …“ Ich sehe ihm tief in die Augen und versuche, den nächsten Satz so sensibel wie möglich hervorzubringen. „Du liebst mich als Person, weil wir uns so lange kennen, vielleicht auch weil wir Kinder zusammen haben. Aber du liebst ein anderes Geschlecht. Du bist schwul, Frank.“ Die Überraschung tanzt unübersehbar in seinen Augen.
„Wenn du mich jetzt fragst, woher ich das wissen möchte, dann verweise ich dich darauf, dass wir 30 Jahre zusammen sind.“ Ich kichere leise und kuschle mich an ihn, als er einen Arm um mich legt und mich an sich drückt.
„Aber ich will dich nicht alleine lassen. Und wie sollen wir das den Kindern sagen?“ Angst schwingt in seiner Stimme mit, Angst vor den Reaktionen unserer Töchter.
„Die wissen das doch auch schon. Sie kennen dich und sind so aufgeschlossen, was das betrifft. Und mach dir um mich bitte keine Sorgen. Mir geht es gut, solange ich weiß, dass es dir gut geht. Ich möchte, dass du reist und tust, was du immer tun wolltest. Und dass du jemanden triffst, dich verliebst und mir eine Postkarte vom anderen Ende der Welt schickst. Dann geht es mir auch gut, sabes?“
„Okay, mi amor.“ Er küsst mich auf meinen Scheitel.
„Aber ich hasse den Gedanken, dich hier allein zurückzulassen.“ Ich drücke seine Hand.
„Du lässt mich nicht zurück. Du hast mich doch immer dabei“, ich tippe auf seinen Brustkorb, „hier drin.“
„Ich liebe dich, weißt du?“
„Te amo también. Ich weiß.“
Wir sehen uns für einen Moment in die Augen und auf einmal ist dieser Neben, der sich über dieses herrliche himmelblau seiner Augen in den letzten Jahren gelegt zu haben schien, verschwunden und es erstrahlt wieder klar. Ich bin glücklich für ihn.
Er greift nach der Fernbedienung, stellt den Ton wieder an und wir verbringen den Abend so, Arm in Arm und vor dem Fernseher.
Wir rufen die Kinder am nächsten Morgen an und verkünden, dass wir uns trennen. Nach mehrmaliger Versicherung, dass es mir mit dieser Entscheidung gutgehen wird, können sie sich dann auch für ihren Vater freuen, dessen Augen so aufgeregt glänzen, dass es mir die Tränen in die Augen treibt.
Wir planen seine Reise nach Brasilien, buchen einen Flug und ein Hotel am dortigen Flughafen, den Rest will er spontan entscheiden. Die nächsten Tage schlafe ich besser als in Jahren.
Ein Jahr und ein paar Videoanrufe später erhalte ich eine Postkarte mit ihm und einem anderen Mann als Bild. Auf der Rückseite verkündet er mir aufgeregt, dass er diesen Mann vor ein paar Monaten in Puerto Rico getroffen habe und sie seitdem zusammenleben und er ihn in den nächsten Tagen fragen will, ob er ihn heiraten möchte. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und seufze tief, während mir eine Träne aus dem Augenwinkel läuft. Das Grinsen auf meinem Gesicht und das wundervolle Gefühl im Magen bestätigen mir, dass es mich unglaublich glücklich stimmt, ihn selbst so glücklich und frei zu sehen. Ich greife zum Telefon und rufe meine Älteste an.
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Historia CortaEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...