for you

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Ist es denn wirklich so unverständlich?
Ich weiß es nicht. Warum sollte eine so junge Frau einen so alten und widerwärtigen Mann heiraten wollen? Sei es drum, der Lord ist Ende 40, aber sie ist vielleicht gerade einmal 20 Jahre alt und dann mit solch einem Widerling verheiratet.

Meine Mutter vermutet, dass es eine arrangierte Ehe ist, denn so verliebt wirkt keiner der beiden. Sie halten sich weder bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Händen, noch flüstern sie kichernd miteinander, wie es die Milchmagd und der Stallbursche tun. Der Lord und die Lady schlafen auch nicht in einem gemeinsamen Schlafzimmer, stattdessen haben sie zwei getrennte, jeweils am anderen Ende des Herrenhauses liegende Gemächer. Nicht wie meine Eltern. Die Herrschaften verbringen ihre Tage getrennt und verschwinden abends gemeinsam mit dem Zweispänner vom Hof zu Empfängen, vermute ich. Aber ich frage nicht, natürlich nicht. Deswegen kann ich nicht mehr als Vermutungen anstellen.
Ich diene Ihrer Gnaden seit sie eines sonnigen Tages mit einem fremden Einspänner mit einem fremden Familienwappen vorfuhr. Man trug ihr Gepäck ins Haus, der Lord kam aus dem Herrenhaus, der Einspänner fuhr ab und die Lordschaft verschwand im Haus. Ich beobachtete diese Szene vom Fenster der Baracke meiner Eltern aus. Die Entfernung ließ nicht zu, dass ich Ihre Lordschaft genauer sehen konnte, aber als ich zum Herrenhaus gerufen wurde und sie das erste Mal aus der Nähe sah …

Sie ist bildhübsch. Ihre weiße Haut, ihr langes, blondes Haar. Und ihre traurigen Augen. Der Blick, den sie mir jedes Mal zuwirft, wenn ich in ihre Gemächer eintrete, wird mit jedem Tag trüber. Diese blauen Augen können bestimmt strahlen, aber sie tun es nicht. Es scheint, als gäbe es keinen Lichtblick für sie, nichts, das ihre Stimmung heben könnte. Manchmal wandert sie wie ein eingesperrtes Tier in ihren Räumen umher und vergisst, dass ich noch da bin und meine Arbeit verrichte. Sie redet dann laut mit sich selbst und starrt auf den Boden. Meistens spricht sie in einer fremden Sprache, die ich nicht verstehe, aber wenn sie Englisch spricht, verstehe ich, dass sie unglücklich ist. Und wenn sie mich dann wieder bemerkt, weil sie mich im Spiegel sieht oder sie den Kopf hebt, errötet sie und scheucht mich aus dem Zimmer. Ich frage mich jedes Mal, ob es ihr nur peinlich ist, weil ich ihre Selbstgespräche unfreiwillig mithöre oder ob sie mich einfach nicht ausstehen kann, weil ich anders aussehe.
Habe ich erwähnt, dass ich schwarz bin? Nun, der Lord kaufte meine Eltern, als sie, aus Afrika verschleppt, auf dem Sklavenmarkt angeboten wurden. Als sie auf diesem Hof hier ankamen, waren sie jünger als ich es heute bin, sie waren noch so jung. Mittlerweile bin ich selbst über 20 Jahre alt, das heißt, meine Eltern verbringen schon mehr als die Hälfte ihres Lebens als Sklaven auf diesem Landgut. Und ich habe kein Geld, um sie freizukaufen und ihnen ein Haus in der Stadt zahlen zu können. Ich bekomme nur etwas, wenn ich bei der Lady des Hauses war. Sie drückt mir immer etwas in die Hand oder lässt mich einen Ring aus ihrer Schmuckkiste mitnehmen. Ich glaube, sie misst diesen Dingen keinen großen Wert bei, Geld und Reichtum. Sie ist so reich, aber trotzdem ist sie nicht glücklich. Das heißt dann wohl, dass das Eine nicht durch das Andere bedingt ist.

Ich habe von diesen Dingen keine Ahnung. Ich kann nicht einmal lesen, gewiss nicht schreiben, nun, bis jetzt nicht. Wenn sie mich nicht hinausscheucht, weil sie sich dabei ertappt, dass sie vor mir Selbstgespräche führt, bringt sie es mir bei. Wie sehr ich mich geschämt habe, älter als sie zu sein und nicht einmal lesen zu können. Jetzt habe ich angefangen, meiner Mutter einfache Worte beizubringen. Sie sind noch jung und eines Tages werden sie frei sein. Da ist es sicher nicht von Nachteil, lesen zu können.
„Mylady?“, rufe ich fragend in ihre Räume hinein. Mary hatte mich aus unserer Baracke geholt, da die junge Lady nach mir verlangte. Ich war zum Herrenhaus gehastet, das doch einige hundert Meter von unseren Baracken entfernt liegt, um jetzt in leeren Räumen zu stehen. Warum hat sie nach mir rufen lassen, wenn sie nicht in ihren Räumen ist?

Ich mache ein paar vorsichtige Schritte in die Räume hinein, werfe einen Blick nach links und rechts und sehe, dass die Tür zum Schlafzimmer geschlossen. Hat sie sich schon zurückgezogen? Ich gehe durch die kleine, private Bibliothek auf die Tür zu, als ich einige befremdliche Geräusche vernehme. Ist der Lord bei ihr?

diversWo Geschichten leben. Entdecke jetzt