Ich hatte immer Angst davor, ins Heim zu kommen. Immer, wenn meine Eltern sich gestritten haben, dass am Ende eine Tür schwer ins Schloss fiel oder einer der beiden anfing zu weinen. Immer dann hatte ich Angst, dass ich in ein Heim müsste. Weil sie sich trennen und mich keiner der beiden nehmen wollen. Weil ich immer nur ein Sorgenkind war.
Aber dann, tatsächlich. Der Streit war zu groß, zu unheimlich, um ihn zu begreifen. Aber mein Vater verblutete auf dem Teppich, mit dem Küchenmesser im Hals steckend. Meine Mutter hatte sich verteidigt, als er sie anging. Das war nicht das erste Mal gewesen, wurde mir im Nachhinein erzählt, als ich alt genug war, um es zu verstehen. Mein Vater hatte meine Mutter emotional misshandelt. Und manchmal auch verprügelt. Und das eine Mal hatte sie sich gewehrt. Und nach diesem einen Mal kam ich ins Heim.
Meine Mutter zog zurück zu ihrer Mutter, gab mein Geburtshaus auf und hat nie wieder von sich hören lassen. Nicht einmal besucht hat sie mich. Dabei war ich erst acht Jahre alt. Das Kinderheim der Stadt, in das ich gesteckt wurde, war nicht das Gelbe vom Ei. Viele kleine Kinder, viele große Kinder, die die Kleinen tyrannisierten. Viel Streit. Viele Schlägereien unter den Jungs. Viel übles Nachreden unter den Mädchen. Viel Gepetze, viele Unstimmigkeiten, viele Ungereimtheiten, viel Unruhe. Ich hatte versucht, mich rauszuhalten, was mich zum Außenseiter machte. Also wurde auf mir herumgehackt, ich wurde ausgelacht und angespuckt. Ja, das waren Zeiten.
Meine Pflegeeltern, ganz liebe, herzliche Menschen, nahmen mich dann gottseidank nach zwei Jahren im Heim bei sich auf. Ein kinderloses Ehepaar, das seit Jahren darüber nachgedacht hatte, ein Kind zu adoptieren und sich nun zu einer Pflegeaufnahme aus dem Kinderheim entschieden hatte. Wie glücklich ich war, aus diesem Heim zu kommen, können Sie sich vielleicht gar nicht vorstellen. Die Pflegerinnen verabschiedeten mich ganz nett, sie hatten mir einen Kuchen mit der Aufschrift AUF EINEN NEUEN LEBENSABSCHNITT gebacken. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich über die zwei Jahre hinweg nicht daran gewöhnen können, so viele Menschen um mich zu haben. Als Einzelkind aufgewachsen zu sein und dann von Schlag auf Schlag mit 20 anderen Kindern das Bad teilen zu müssen, war eine mühsame Umstellung. Umso glücklicher war ich, als ich endlich wieder in ein ruhiges, gepflegtes Heim mit zwei Bezugspersonen ziehen konnte.
Ich hatte mir Mühe gegeben, mich ihren Gewohnheiten anzupassen, hatte im Haushalt geholfen und war fleißig in der Schule. Meine neuen Eltern hatten nichts an mir auszusetzen, wie es schien. Sie gaben mir die Liebe, die ein zehnjähriges Kind braucht, unterstützten mich in der Schule und hielten mir den Rücken frei. Drei Jahre, nachdem ich bei ihnen eingezogen war, holten sie noch ein zweites Mädchen aus dem Heim. Verschüchtert und einsam kam sie mir vor, als wir uns vorgestellt wurden, sie war aber auch noch um einiges jünger als ich gewesen. Ich erkannte mich in ihr wieder. Ich half ihr, sich einzufinden, sich anzupassen und in ein fröhliches Leben zu finden. Ich spielte die große Schwester, so gut ich konnte. Sie gab mir mein Bemühen in Liebe zurück. Wir hatten ein inniges Verhältnis zueinander in dieser Zeit.
Als ich meinen ersten Freund mit fünfzehn mit nach Hause brachte, schauten meine Eltern etwas doof aus der Wäsche, hatten aber nichts dagegen, dass wir uns an den Wochenenden trafen und uns Filme ansahen. Was ich ihnen nicht erzählte, war, dass Louis und ich nach einem gemeinsamen Jahr noch ganz andere Sachen taten als nur Filme gemeinsam zu sehen. Was sie aber wussten. Dumm waren die beiden auf jeden Fall nicht. Mama ließ hin und wieder Sprüche fallen, die mich daraufhin weisen sollten, auf mich acht zu geben und nicht schwanger zu werden. Ich muss sogar lächeln, wenn ich jetzt noch daran denke. Sie haben sich nie Sorgen um mich gemacht. Sie wussten, ich würde ihnen keine Sorgen machen oder eine Last werden.Louis war längst Geschichte und aus meinem Leben verschwunden, als ich Friedolin kennenlernte. Er kam vom Land, besuchte mich jedes zweite Wochenende in der Stadt und brachte mich zum Lachen. Ich verliebte mich unsterblich in ihn. Mit 21 war ich verlobt und schwanger. Meine Eltern waren überglücklich, vielleicht umso mehr, weil sie erkannt hatten, dass ich mit Friedolin ein gutes Leben haben würde. Ich lernte seine Familie kennen, die auf ihrem eigenen Hof wohnten, Feldwirtschaft betrieben und sich so gut wie selbst versorgten. Seine Mutter war verzückt, als sie mich kennenlernte. Sie nahm meine Hände und ihre und sagte: „Friedolin kann froh sein, dass er Sie gefunden hat!" Nach weniger als 4 Wochen waren wir verheiratet.
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Historia CortaEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...