Ich sehe mich selbst. Ich bin im letzten Jahr vom Kindergarten und komme gerade nach Hause. Den Weg durfte ich immer alleine fahren, weil er mit dem Fahrrad nur gut zwei Minuten dauert. Außerdem kommt ein Kind auf dieser Insel nicht weg. Oh diese Insel. Für mich als Kind ist sie das Paradies auf Erden. Ich habe Strand, Meer, Freunde, Familie und alles was ich brauche an einem Ort. So ein schöner Haufen Sand, der immer für mich da sein wird.
Das Bild meines Zuhauses, gerade noch in schillernden Farben einer Kindheitsansicht, verblasst. Ich stehe in meinem Kinderzimmer und sehe mich selbst am Schreibtisch sitzen. Meine Schwester ist draußen mit ihrer Freundin. Diese Szene spielt ein paar Jahre später. Die Hausaufgaben vor meiner Nase sind für mich unfassbar schwer und stille Tränen rennen meiner jüngeren Version über die Wangen. Hätte ich einen Mucks von mir gegeben, wäre einer meiner Eltern in das Zimmer gekommen und ich hätte Ärger bekommen, dass ich mich nicht so anstellen dürfe. Die Verzweiflung in den Augen und der Körpersprache meiner jüngeren Version fühlt sich frisch an und weiß ganz genau, was jetzt passieren wird, noch bevor sie den Stift gezückt hat und die erste Unterschrift fälschen kann.
Das Bild flackert und verändert sich. Den ganzen Tag, habe ich an den Wochenplänen gearbeitet und an einem Nachmittag eineinhalb Pläne geschafft. Die kleine Version muss ungefähr in der dritten Klasse sein. Ich erinnere mich an diesen Tag. Es war ein Tag voller Stress und Bemühungen. Eineinhalb Wochenpläne an einem Nachmittag zu schaffen, war eine Tortur. Es klopft und meine Mutter kommt in unser Zimmer, auch wenn meine Schwester wieder einmal nicht vor Ort ist. Es folgt eine Unterhaltung darüber, wie viel ich geschafft habe. Abgemacht waren drei ganze, heißt ich habe die Hälfte geschafft. Es ist also nicht genug. Das war das erste Mal, dass ich von meiner Mutter eine Backpfeife bekommen habe.
Nächste und hoffentlich letzte Szene. Vielleicht siebte Klasse. Ich wurde wegen meines Körpergewichts gemobbt und komme nach Hause. Ich hatte keine Lust mehr zu leben, weil ich das Gefühl hatte, dass mich sowieso keiner vermissen würde und ich nur eine Last sei. Lina sitzt neben mir auf dem Bett und versucht mich zu trösten, als unser Vater das Zimmer betritt und sie raus schickt.
Mit verweinten Augen sehe ich zu meinem Vater auf, der ungewöhnlich sanft zu mir hinabsieht. Er streicht mir über die Haare und tatsächlich habe ich das Gefühl er wollte mich trösten. »Ich habe eine Überraschung für dich, Michelle.« Verwundert sieht die kleine Michelle zu ihm auf und ich muss die Augen schließen, bei dem was als nächstes kommt. Ein Hieb in die Magengrube und einen gegen das Kinn, der mir den Kiefer hätte brechen können.
»Das war meine Überraschung für dich. Du bist eine Schande für die Familie Williams. Du bist eine Schande!« Die Wörter Überraschung in Verbindung mit dem Gefühl der Schläge und der Erniedrigung haben sich in mir verankert. Von dem Tag an wusste ich, dass ich für jeden eine Last bin und immer sein werde.
Lukas ist alles, was ich wahrnehme. Das Gefühl der Sicherheit, dass er mir verleiht, wird mir allzu bewusst und sein sorgenvolles Gesicht ist das Einzige, was ich gerade sehe. Sofort werfe ich mich ihm in die Arme. Das Glas welches ich beim Betreten des Raums noch in der Hand hatte, ist mir schon längst aus der Hand gerutscht, aber darum werde ich mich später kümmern. Lukas schließt mich in seine Arme und flüstert beruhigend auf mich ein, während er mir mit einer Hand über das Haar streicht, welches ich heute bloß zu einem Pferdeschwanz im Nacken trage. Die anderen sind ganz still geworden, oder ich höre sie einfach nicht mehr, weil ich gerade nichts, außer Lukas wahrnehmen kann.
»Hey was ist los, meine Schöne?« Er vergräbt sein Gesicht an meinem Hals und hält mich in seinen starken Armen.
»Siehst du sie nicht?« Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Brust und will es da am liebsten gar nicht mehr wegnehmen.
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Geprägt von Dämonen
RomanceMichelle Williams, oder auch Mitch, wie sie von fast allen genannt wird, lebt quasi zwei Leben. Es gibt ihr Leben auf der Insel, von dem sie versucht so ziemlich jeden fernzuhalten und es gibt ihr Leben im Internat und der Schule. Zu ihrer Familie h...