Erneut bleibt mir der Atem weg. Wir stehen vor einem kleinen Haus. Es ist gemauert, aber die Haustür wurde erneuert und vor den beiden Fenstern, die zur Straße hinzeigen, hängen kleine Blumenkästen, die mit Alpenveilchen und Christrosen bepflanzt sind. Lukas lässt mich nicht einen Moment aus den Augen, während ich das Haus in Augenschein nehme.
Durch den, vom Morgentau glänzenden, Vorgarten führt ein Weg aus Steinen bis zur Haustür. Langsam, Schritt für Schritt, nähere ich mich dem Haus und nehme immer mehr Details war. Die dunklen Dachpfannen – ein passender Kontrast zu den Steinen des Hauses – die Holztür, die frisch lackiert wurde und die, in die Tür eingelassenen, kleinen Fensterscheiben. Lukas greift an mir vorbei und schließt die Haustür auf. Sie öffnet sich und ein kleiner mit Nussbaumparkett ausgelegter Flur heißt uns willkommen. Die Wände des Flurs sind eierschalenfarben und Lukas hängt unsere Jacken an eine Garderoben-Spiegel-Kombination. Wir schlüpfen aus unseren Schuhen und stellen diese unter die Jacken in das kleine Schuhregal.
Als ich mich aufrichte, fallen mir die Fotos an den Wänden auf. Sie zeigen Bilder aus dem Sommer – Lukas und mich, wie wir zusammen am Strand liegen, er in blauer Badeshorts und ich in einem high-waist Bikini mit schwarzer Hose und rotem Oberteil, Amira in ihrem knallroten Bikini, die mit mir Grimassen schneidet, Chris in typisch schwarzer Badeshorts und Lukas die zusammen für die Kamera posieren und ein Gruppenbild von uns, auf dem wir nach Größe sortiert stehen, wie die Orgelpfeifen. Genau dieses Bild fesselt meine Aufmerksamkeit. Wir sind schon eine komische Truppe. Ich wirke mit meinem 1,60 Meter kleinen und gedrungenen Körper neben der 1,79 Meter großen und schlanken Statur von Amira, dem 1,80 Meter großen, gut trainierten Lukas und dem 1,98 Meter riesigen, muskulösen Chris irgendwie fehl. Aber die drei akzeptieren und lieben mich so, wie ich bin.
Auf einem kleinen Wandregal stehen ein hölzernes M und ein L, was mich innerlich schmunzeln lässt, aber nach außen hin, zeige ich keinerlei Emotionen. Ich weiß nicht warum, aber ich kann gerade noch nichts zeigen. Es hängen noch weitere Bilder im Flur. Die meisten zeigen Lukas und mich in Momenten, in denen ich gar nicht mitbekommen habe, dass jemand ein Foto gemacht hat. Mal stehen wir in einer Umarmung auf dem Schulhof, auf einem anderen werfen wir uns beim Konzert vom Chor einen Blick zu. Neben der Treppe, die ins obere Stockwerk führt, sind auch Bilder von Vie, Key, Kalle, Al und Lil vorhanden.
»Wir dachten uns, dass du deine anderen Freunde auch gerne hier haben möchtest.« Lukas ist meinem Blick gefolgt und antwortet auf meine unausgesprochene Frage. Es gehen links und rechts jeweils zwei helle Türen vom Flur ab. Direkt links neben dem Eingang befindet sich ein Gästebad mit Dusche, wie Lukas mir erzählt. Die zweite Tür auf der linken Seite des Flurs führt in ein anderes Zimmer. Als ich diese öffne, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Es ist ein wunderschönes, helles Wohnzimmer. Die Fenster sind groß genug, dass jede Menge natürliches Licht den Raum fluten kann. An einer Wand ist ein großer Fernseher, der umgeben ist von Regalen, die mit unseren Lieblingsfilmen gefüllt sind – die muss Lukas von sich Zuhause mitgenommen haben. In diesem Zimmer hätten locker zehn Personen Platz – zwei große Sofas und drei gemütlich aussehende Sessel stehen im Raum. Die Möbel sind alle dunkel gehalten, was einen wunderschönen Kontrast zu den hellen Wänden und dem hellen Boden aus Apfelbaumholz bildet. »Dieses Zimmer hat Chris eingerichtet. Ich bin erstaunt, was für ein gutes Auge er hat.« Lukas nickt anerkennend.
Vereinzelt hängen auch hier Bilder an der Wand. Die meisten zeigen Naturmotive. Irgendwie beruhigend. Es sind Bilder, die wir im Rahmen eines Kunstprojektes machen mussten. Eines der Bilder zeigt eine am Baum hängende Schaukel, auf der eine weibliche Silhouette zu erkennen ist. Der Hintergrund besteht aus einem Sonnenuntergang, weshalb die Person nicht erkennbar ist, aber ich weiß sofort, dass ich die Person auf der Schaukel bin. Meine Haare sind zu dem klassischen Dutt hochgebunden und mein Kopf lehnt an einem Seil der Schaukel, während ich mir den Sonnenuntergang ansehe. Chris hat das Bild aufgenommen, als er im Wald nach mir gesucht hatte, weil ich mal wieder nicht erreichbar war. Die beiden Jungs haben wirklich ein Auge für verborgene Schönheiten.
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Geprägt von Dämonen
RomansaMichelle Williams, oder auch Mitch, wie sie von fast allen genannt wird, lebt quasi zwei Leben. Es gibt ihr Leben auf der Insel, von dem sie versucht so ziemlich jeden fernzuhalten und es gibt ihr Leben im Internat und der Schule. Zu ihrer Familie h...