16. "Vielleicht habe ich mich getäuscht"

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Es war seltsam. Weder mochte die Rebellen, noch wollte ich sie an meiner Seite wissen, doch es war nicht einmal ein Tag rum und es fühlte sich seltsam leer, ohne sie, an.

Es ist ruhig geworden. Selbst die anderen Rebellen, die da geblieben sind, gingen leise ihrer Arbeit nach.
Die Wochen musste ich auf den Feldern arbeiten. Doch jeden Abend trainierte ich. Es war ein guter Zeitvertreib. Aber vor allem klammerte ich mich noch immer an den Gedanken, ich könne mich dann gegen die Rebellen zur Wehr setzen und entkommen.

Das Training war anstrengend. Jeden Tag wachte ich mit Schmerzen auf, doch ich versuchte durchzuhalten. Trotz schmerzender Knochen trainierte ich bitterlich weiter.
Ich wurde besser, zumindest aus meiner Sicht heraus. Meine Ausdauer verlängerte sich um einiges.
Doch trotz des Trainings und den vielen Sachen, die ich für die Rebellen erledigen sollte, hüpfte immer wieder der Gedanke an meine Familie, vor allem an meinen Bruder, durch meinen Kopf.
Inständig hoffte ich, dass es ihm gut ginge. Miss Wright hatte mir versprochen, mir die Zeit zu geben, die ich brauchte, um mein Ziel zu erfüllen. 

Dennoch fühlte es sich nach all dieser Zeit nicht mehr an, als würde sie es tun. Es war, als liefe mir die Zeit davon, mit jedem Tag, den ich hier verbrachte. Doch das Schlimmste war, dass ich mir nach all der Zeit immer wieder Gedanken gemacht hatte, wie ich entkommen sollte, doch ich hatte es nicht einmal versucht.
Die Zeit hatte mich vergessen lassen, woher ich kam und wer ich war. Aber doch fühlte es sich an, als wäre ich nicht dieselbe, die ich eben einmal war.

Immer kreisten absurde Gedanken über Vitroum in meinem Kopf. Nicht nur mein Kopf schien verrückt zu spielen, sondern auch mein Herz. Mal klopfte es unterbrochen, manchmal schien es stehen zu bleiben. Es war seltsam, denn sooft ich auch versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, gelang es mir nicht. Natürlich dachte ich an die Möglichkeit, die Darian vor langer Zeit erzählt hatte. Dennoch sprach zu viel dagegen.
Warum sollten ausgerechnet die Rebellen wissen, welche Wirkung die Impfungen wirklich hatten.

Laute rufe, rissen mich aus meinen Gedanken. Ich zog meine Handschuhe aus und legte sie zögernd beiseite. Laute Stimme hallten immer wieder an mein Ohr. Laut krachte es, bevor die Stimmen wieder ertönten. Sie mussten wieder da sein. Ich eilte den Gang entlang zu der großen Halle. Sie waren tatsächlich wieder da, aber nicht wie ich es erwartet hatte.
Brian hatte überall Kratzer im Gesicht. Er humpelte leicht.
Doch es war die Person, die er über die Schulter trug, die mich innehalten ließ. Es war ein junger Mann. Sein Kopf hing leblos über Brians Schulter.
Scharf zog ich die Luft ein, als ich noch eine leblose Person sah, die von zwei Rebellen getragen wurden.

Jeder aus der Gruppe hatte Verletzungen. Kleine oder Größere. Doch es sah definitiv nicht danach aus, als ob es so hätte laufen sollen.
Sie hatten ihre Vorräte, die wurden von Darian getragen und Ashton, der wie immer mit seinem Bein humpelt.
Aber zu welchem Preis?
Tiara und Manisha kamen zusammen rein. Ihre Blicke gingen nur zu Boden.
Direkt hinter ihnen erschien Alec. Seine Augen waren finster. Er hatte einige Schrammen und seine Hand war in Stoff gewickelt.

Brian ließ den Toten zu Boden. Fluchend drehte er sich zu Alec.
„Ich hatte dir vertraut. Verdammt, Alec!", schrie er.
„Du sagst, dass es meine Schuld ist!", donnerte Alec und schritt aus der Gruppe empor. Ich blickte mich um. Überall hatten sich die Rebellen gesammelt, die dageblieben waren und beobachten das Geschehen.
„Du wirst uns alle umbringen!"
Mit verzerrtem Gesicht schritt Brian auf Alec zu.
„Beinahe wären wir deinetwegen alle draufgegangen!"

„Meinetwegen?", Alec lachte laut auf und schüttelte den Kopf. „Hättest du dich rausgehalten, wäre niemand gestorben. Es ist allein deine Schuld."
Brians Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Rückenmuskulatur war angespannt.
„Es war nicht seine Schuld und das weißt du genau, Alec", meldete sich Ashton.
„Natürlich. Es war seine, wie damals."
Plötzlich traf Brians Faust Alecs Gesicht. Dieser taumelte rückwärts und ließ den Kopf kurz hängen. Blut tropfte seine Nase hinunter. Ein hässliches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit und er wollte ausholen, doch Darian riss ihn mit voller Wucht zurück.
Alec verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
Brian wollte erneut zuschlagen, doch wurde von Ashton zurückgezogen.

„Ich dachte, in dir würde auch nur noch ein Hauch Menschlichkeit leben, Alec.", stieß Brian aus. „Aber da lebt nichts weiter als tiefe, dunkle leere."
Er riss sich aus Ashtons Armen und humpelte davon.
Angespannte Stille breitete sich aus.
„Was guckt ihr so?", schrie Alec auf einmal.
Ich zuckte zusammen und entfernte mich einen Schritt. Wild klopfte mein Herz.
Alecs dunkle Augen trafen meine. Eilig entfernte ich mich.
Während ich durch die Gänge streifte, konnte ich die Szene nicht vergessen. Die zwei Toten, die reingetragen wurden, das ganze Blut, was an jedem Rebellen klebte und die dunklen Augen Alecs. Sie waren Teufels besessen.
Zum Verschnaufen blieb ich stehen. In dem Monat, als die Rebellen weg waren, hatte ich dieses Herzklopfen nie. Darian hatte es als Angst beschrieben.
Doch nun kam es alles wieder zurück.

Ich wollte zurück zu meinem Zimmer gehen, doch dann sah ich Brians Tür. Langsam schritt ich auf diese zu. Ich wollte mit ihm darüber reden. Ich wollte wissen, was passiert ist. Vor allem aber wie es ihm ging.
Leise klopfte ich an die Tür.
„Verschwinde!"
Erneut klopfte ich leise.

Laut wurde die Tür aufgerissen. Brian stand mich hochgekrempelten Shirt vor mir. Auf seinem Bauch zog sich ein langer Kratzer entlang.
„Was willst du?", fragte er schroff.
Mein Blick ging zu ihm. Langsam verschwand seine Falte zwischen den Augenbrauen wieder.
„Mit dir reden."
Er ließ sein Shirt runter und ging von der Tür weg.
Als ich sein Zimmer betrat, roch ich wieder seinen erkennbaren Geruch. Er roch nach Wald. Frischem Moos, Erde und einem Hauch von Blume.
„Worüber willst du reden?"
Brian schloss die Tür und drehte sich zu mir.
„Tut die Verletzung sehr weh?"
Er schüttelte den Kopf. „Passt."
„Was ist unterwegs passiert?"
Seufzend ließ er sich auf sein Bett nieder und lehnte den Kopf an eines seiner Kissen.
„Setz dich."

Ich ließ mich auf seinen Hocker nieder und blickte ihn erwartungsvoll an. Seine Augen gingen zur Decke, als er anfing zu erzählen.
„Wir hatten unsere Sachen zusammengepackt und wollten los. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ich wollte Alec zum Halten zwingen, doch er hörte nicht. Wir liefen mitten in einen Hinterhalt. Ich habe versucht die Situation zu retten, doch die Seelenlosen eröffneten das Feuer."
Ich senkte den Kopf.

„Es tut mir leid, was euch geschehen ist. Aber es war nicht deine Schuld."
Er schloss die Augen.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht."
Ich richtete mich auf und ließ mich neben Brian auf das Bett sinken. Er öffnete seine Augen und richtete sich auf. Etwas zuckte über sein Gesicht.
„Weißt du, was der Unterschied zwischen dir und Alec ist. Du hast das."
Ich deutete auf mein Herz.
„Dich interessiert das Leben anderer. Alec lebt für sich, für niemand anderen. Genau deshalb ist es seine Schuld. Er hätte nicht einmal versucht, das Leben der anderen zu retten."
Er lächelte leicht. „Woher hast du das?"
„Einer Freundin, die mir das auf den Weg gegeben hat. Weißt du, ich habe lange, immer wieder über Darians Worte nachgedacht. Ich glaube immer noch, das Vitroum kein schlechter Ort ist und die Menschen keine schlechten sind, aber ich bin mir sicher, dass Darian recht hat. Ich empfinde Gefühle. Ich habe Angst. Immer wenn Alec da ist, habe ich Angst."

Ich schaute zu Boden.
„Ich hoffe, du kannst verstehen, wie es den anderen gehen muss. Menschen, die seit ihrer Geburt dieses Gefühl fühlen."
Ich richtete mich auf und nickte ihm zu. Er war in Gedanken. Aber auch ich. Meine Worte ließen mich selbst nachdenken. Ich hatte keine Ahnung, woher sie auf einmal stammten. Woher die Akzeptanz kam, für alles was passiert ist.
„Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht."
„Vielleicht ich mich auch in euch getäuscht."

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