20. "Sie war schwanger"

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Ich war bereits auf dem Weg zu Brians Zimmer, als sich mir Darian in den Weg stellte.
Wir hatten uns die letzten Tage kaum gesprochen.
„Können wir reden?", fragte er und verschränkte die Arme.
„Ist es wichtig?"
Er seufzte.
„Wir haben uns seit der Jagd nicht mehr unterhalten. Wie geht es dir?"
„Darian", ich legte meine Hand auf seine Schulter. „Mir geht es gut und wir können uns gerne später unterhalten. Aber wo ist Brian?"
Man konnte nicht übersehen, dass er für einen Moment die Augen schloss, bevor er fortfuhr.
„Ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen."
Dankend nickte ich und lief an ihm vorbei.
„Gwendolyn?"
Seine Stimme brachte mich zum Halten. Erneut schaute ich zu ihm.
„Vergiss es nicht."

Kopfschüttelnd wandte ich mich von ihm ab.
Ich wusste genau, wo Brian war, wenn er nicht in seinem Zimmer ist oder der Trainingshalle. Zudem durfte er mit der Wunde nichts weiter machen.
Ich quetschte mich durch den engen Spalt und kletterte durch das Loch. Eisiger Wind streifte meinen Körper.
Ich schlang meine Arme um meinen Körper, während ich Brian beobachtete.
Er bemerkte nicht einmal, das ich da bin. Still saß er mit angewinkelten Beinen da, die Jacke über die Schultern gehängt.
Leise nährte ich mich ihm und ließ mich neben ihn nieder.
„Worüber denkst du nach?"
„Über viele Sachen", murmelte er nur und starrte weiter auf die Landschaft.
„Bitte rede mit mir!"

Erneut bildete sich ein schweigsamer Moment. Doch plötzlich setzte er zum Reden an.
„Alec war einer der wichtigsten Personen in meinem Leben. Nach all dem was passiert ist, bildete er meinen Halt. Ich habe nie darauf geachtet, dass er sich dabei selbst verloren hat."
„Was ist damals passiert? Was haben dir die Seelenlosen angetan?"
Seine Brust senkte sie hektisch.
„Ich war damals zwölf oder dreizehn, ich weiß es nicht mehr. Die Mauer zwischen den Seelenlosen und der Rest der Bevölkerung stand bereits. Damals machten sie jagt auf uns. Sie wollten so viele Menschen für Vitroum gewinnen, wie es ihnen möglich war. Ich lebte mit meiner Familie damals weit abseits. Es war alles wunderschön. Wir hatten ein kleines Haus, mit einem Garten voller Blumen. Später sollte ich eine kleine Schwester bekommen. Es war alles perfekt."

Sein Blick senkte sich. Vorsichtig nahm ich seine Hand und schloss sie in meine. Sie war eiskalt. Er brauchte mehrere Momente, bevor er weitersprechen konnte.
„Bis zu dem Tag, als die Seelenlosen uns fanden. Meine Mutter und ich konnten fliehen, weil mein Vater uns beschützte. Er bezahlte mit seinem Leben. Meine Mutter und ich begegneten einer kleinen Gruppe geflohener, fliehender und rachsüchtiger Menschen. Wir schlossen uns dieser an. Sie verübten kleine Anschläge auf Vitroum, die alle misslangen."

„Brian, du musst nicht weiterreden!", stieß ich aus, als ich sah, wie sehr es ihn mitnahm, doch hörte er nicht zu.
„Unser Lager wurde verraten, von den eignen Mitgliedern. Vor meinen Augen töteten sie meine Mutter. Sie war schwanger. Verdammt, sie war schwanger. Niemals würde ich ein großer Bruder sein und die kleinen Augen meiner Schwester erblicken."
Ich drückte Brians Hand fester. Immer mehr Tränen rannen seine Wangen hinunter.
„Alec und ich trafen uns. Wir waren im selben Alter. Zusammen schworen wir uns der Rache. Als wir älter wurden, entstand der Widerstand."
Immer mehr Tränen liefen seine Wange hinunter.
„Es tut mir so leid. Wenn ich gewusst hätte-"
Vitroum schien in diesem Moment zu zerbrechen. Erinnerungen zerbrachen wie das Glas. So vieles schien in diesem Moment kaputtzugehen. Lügen wurden mir immer mehr offenbart.
Tiara hatte recht. Vitroum war kein guter Ort. Sie hatten Leben geopfert, ohne Reue. Kopfschüttelnd versuchte ich alle Lügen zu vertreiben, die sich mir offenbarten.
Vitroum war aus dem Blut unschuldiger entstanden. Sie unterdrückten unsere Gefühle. Sie zerstörten die Menschheit. Sie zerstörten Seelen. Sie wurden Seelenlose genannt, aus gutem Grund.
Mein Gesicht glühte.
Heiße Tränen liefen mir die Wange hinunter.

"Gwen?"
Brians Finger streiften mein Gesicht. Ich blickte zu ihm. Seine Augen hatten an Farbe verloren. Sie wirkten bleich.
„Dir muss überhaupt nichts leidtun."
Mit seinem Daum strich der die Tränen aus meinem Gesicht. „Du bist nicht wie sie. Es tut mir leid, dass ich das nicht eher erkannt habe."
Langsam legte ich meinen Kopf auf seine Schulter. Seine Worte fühlten sich gut an. Sie ließen mich wieder Luft holen. Beruhigten mein wild pochendes Herz.

Ich wollte etwas sagen, doch fehlten mir die Worte, das auszudrücken, was ich ihm sagen wollte.
„Du musst nichts sagen."
Als könne er meine Gedanken lesen. Ich schloss die Augen und genoss seine Wärme, die er trotz der Eiseskälte ausstrahlte.
„Gwen?"
Ich hob meinen Blick. Langsam schlang er seine Arme um mich und zog mich in eine Umarmung.
So saßen wir da. Als könne uns in diesem Moment nichts bezwingen. Weder seelenlose noch Rebellen oder die Kälte.
Der Moment gehörte nur uns beiden.

Cold Hearts | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt