31. "Sie sind meine Familie"

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Das Licht spiegelte sich im Glas der Hochhäuser. Weiterhin streckten sie sich den Himmel entgegen. Die Hochbahn fuhr immer noch sekundenweise.
Die Parks waren immer noch grün wie eh und je und das Wasser so Blau wie der Himmel selbst.

Monate war ich weg gewesen, doch hatte sich nichts in Vitroum geändert.
Es war, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben, während ich weg war. Aber genauso war es nicht. Alle hatten weitergelebt.
Nun konnte auch ich weiterleben.
Ich hatte noch einige Arzttermine wahrzunehmen, sollte noch meine Eltern treffen und mit ihnen Dokumente unterschreiben und dann könne ich in mein altes Leben zurückkehren.
Ich richtete mich aus meinem Bett auf und zog mir die schlichte und einfach gehaltenen Kleidung über.
Meine Haare hatte ich mir noch am selben Tag meiner Ankunft wieder kurz geschnitten. Die Erinnerung wie Brian durch meine Haare fuhr, wollte ich nur noch loswerden. Alles, was mit Brian zu tun hatte, wollte ich loswerden.

Seit meiner Ankunft hatte ich oft weinen müssen. Ich hatte geschrien, in der Hoffnung, all die Schmerzen aus meiner Brust loszuwerden.
Er verging nicht.
Doch mit jedem Tag wurden die Tränen weniger, bis sie erloschen. Irgendwann hatte ich keine mehr.

"Gwendolyn!"
Überrascht wandte ich mich der Tür zu.
"Noel!"
Eilig rannte ich zu meinem kleinen Bruder und schloss ihn in meine Arme. Nie wieder wollte ich ihn loslassen.
"Dir geht es gut. Es geht dir gut", stieß ich immer wieder aus und zog meine Arme enger um ihn. Aber Noel schob mich langsam von sich weg.

"Was hast du getan?", hauchte er und schüttelte ungläubig den Kopf. "Wieso hast du sie verraten?"
Stumm schaute ich ihn an. Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Eigentlich wusste ich nicht wirklich, was meine Erwartungen waren. Vielleicht ein "Hallo, ich habe dich vermisst" oder "Gwen, du lebst", aber auf keinen Fall mit dieser.
Verdattert schaute ich ihn an.

"Haben sie dich bereits geimpft!"
Panik breitete sich auf seinem Gesicht aus. Verzweifelt suchte er meinen Arm ab. Mit meiner Hand schlug ich seine weg.
"Nein."
Erleichtert atmete er aus, bevor er mich zu meinem Bett zog.
"Wieso hast du sie verraten? Verdammt, warum?"
Ein Beben ergriff meinen Körper. Zittern kehrte ich meine Hände zurück. Ich schloss die Augen. Bittere Tränen liefen meine Wange hinunter. Salz traf meine trockenen Lippen.
"Gwen, was haben sie getan. Bitte, rede doch endlich."
Vorsichtig berührte seine Hand meine Schulter.
"Ich habe mich verliebt, Noel."
Neugierig musterten mich seine Augen. Ob er wusste, wovon ich sprach?
"Doch er liebte mich nicht genauso wie ich ihn. Ich erwischte ihn, wie er eine andere Frau küsste."
Eine weitere Träne bannte sich den Weg über meine Wangen.
"Noel, noch nie in meinem Leben habe ich solche Schmerzen gespürt. Es fühlte sich an, als würde mein Körper von innen verbrennen."
Sofort schlangen sich seine Arme um meinen Körper. Mit seiner Hand presste er meinen Kopf an seine Brust. Ein Schluchzen verließ meinen Mund. Meine Tränen benetzten sein weißes Shirt.
"Ich wollte niemanden verletzten!", klagte ich.

"Gwen."
Erneut schob Noel mich von sich.
"Ich weiß nicht, wie sich solch Schmerz anfühlt und um ehrlich zu sein, will ich es auch nicht. Aber die anderen Rebellen sind nicht verantwortlich für sein Fehlverhalten."
Mit meinem Ärmel fuhr ich mir über das Gesicht.
"Mach sie nicht verantwortlich dafür", eindringlich griff er nach meinen Armen. "Gwen, an dieser Sache hängt so viel mehr als Liebesschmerz. An dieser Sache hängt die Zukunft der Menschheit."

Seine Worte trafen mitten in mein Herz. Nicht weil er falsch lag oder sie mich verletzten. Nein, weil er recht hatte. Ich hatte jeden mit verantwortlich gemacht.
Ich war nicht nur ein Feigling, sondern auch ein Egoist.
"Denk drüber nach, bevor es zu spät ist."
Langsam wandte er sich ab.
"Ich bin mir sicher, dass er dich nicht absichtlich verletzt hat. Rede mit ihm, so sehr es auch schmerzen mag, so sehr dein Kopf Nein schreit, so sehr du glaubst zusammenzubrechen. Glaub an dein Herz und wie stark es sein kann."
Leise schloss er die Tür.
Kraftlos sank ich auf meine Knie und starrte aus dem großen Fenster.

Cold Hearts | ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt