7. Kapitel

2.5K 186 12
                                    

       Irgendwann hatten Reece und ich das Spiel aufgegeben. Eher ich als er. Nach vier Runden in denen ich verloren hatte, hatte ich keine Lust mehr gehabt und Reece hatte vorgeschlagen, dass wir uns ja nur noch Fragen stellen konnten. Langsam wurde es am Tisch zu ungemütlich weswegen wir uns auf die Couch setzten und den zügelnden Flammen des Feuers im Kamin zusahen. Der Wind heulte lauter und pfiff durch jede erdenkliche Ritze. Irgendwie hinderte es uns aber nicht daran, weiterhin auf der Couch zu sitzen. »Wieso bist du über Weihnachten ohne deine Familie hier?«, fragte Reece, der als nächster mit der Frage dran gewesen war. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. »Ich mag es lieber, wenn ich an Weihnachten allein bin. Außerdem bist du ja auch ohne Familie hier«, presste ich hervor.
       Der letzte Satz sollte der Ablenkung dienen. Es schien nicht zu klappen. Reece musterte mich aufmerksam und studierte mein Gesicht. Was er dort genau sah konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Seine Augen funkelten im Licht des Feuers im Kamin. »Ich bin allein hier, weil ich in den Augen meiner Familie... eine Enttäuschung bin und es sicher immer sein werde.« Seine Stimme war hart wie Stahl und doch glaubte ich eine Welle an Emotionen in seinen Augen zu sehen, ehe sein Blick wieder kalt wurde. »Und was ist mit dir?« Überrascht blinzelte ich einen Moment. Mir fiel auf, dass ich Reece von Anfang an falsch verstanden hatte. Natürlich war mir klar, dass jeder sein Päckchen auf der Welt zu tragen hatte. Manche hatten es schwerer, andere leichter.
       Nur Reece hatte so kalt gewirkt, dass ich ab und an das Gefühl gehabt hatte, dass er gar keine Gefühle hatte. Doch diese sanfte Wärme, die in seinen Augen lag, diese Ruhe, mit der er mich musterte und mich nicht drängte, ihm zu antworten, schnürte mir die Kehle zu und gleichzeitig ging mein Herz in Flammen auf. Dieses Gefühl irritierte mich. Noch nie in meinem Leben hatte ich mit jemanden darüber gesprochen. Nicht mal mit meinen besten Freunden, die nicht mehr meine besten Freunde waren. Dieser Zug war vor langer Zeit abgefahren. Unwillkürlich begann die Narbe an meiner Hüfte zu jucken. Mir wurde heiß und Erinnerungen flackerten vor meinem inneren Auge auf.
      »Du musst nicht antworten. Ich kann dir auch eine andere Frage stellen, Sky.« Die Art, wie er meinen Namen aussprach, war sanft und ruhig. In diesem Moment sah ich einen ganz anderen Reece vor mir. Er gab mir Raum und saß gleichzeitig dicht bei mir. Eigentlich ein Widerspruch. Bei jeder Therapie, die ich gemacht hatte, waren die Therapeuten fast zwei Meter weit weg gesessen und doch hatte ich das Gefühl gehabt, nicht atmen zu können. Er saß dicht neben mir, den Blick auf mich gerichtet, die Augen voller Neugier aber auch voller Zurückhaltung, Ruhe und Verständnis. Eigentlich wäre der jüngere Teil in mir geflüchtet, ein anderer Teil hätte ihn jetzt angefahren und ihm gesagt, dass ihn nichts anginge.
       Ohne mein Zutun öffnete sich aber mein Mund und die Worte purzelten über meine Lippen, ehe ich sie aufhalten konnte: »Meine Eltern sind weg. Für immer...« Meine Stimme brach und ich musste mich räuspern, um weiter zu sprechen. »Meine Großeltern wollen nichts mehr von mir wissen, seit ich ausgezogen bin und mich allein über die Runden schlage. Wir hatten einen Unfall auf einer vereisten Straße. Mein Vater wollte ja nur... er wollte doch nur zu seinem Bruder fahren, weil er krank war. Wir wollten ihn nicht allein lassen. Und... « Tränen sammelten sich in meinen Augen, während eisige Kälte sich in meinem Körper breit machte.
       Die Wärme des Feuers drang nicht mehr zu mir hindurch. »Und...« Ein Schluchzen schlüpfte über meine Lippen und ließ meinen ganzen Körper erbeben. Tausende Gefühle, die ich jahrelang zurückgehalten hatte, drohten mich zu überfluten und mich mit sich in die Dunkelheit zu reißen. Ehe ich aber in der Dunkelheit versinken konnte, waren dort warme Hände, die mich sanft an einen Körper zogen und ehe ich mich versah lag mein Kopf auf einer Brust. Der Geruch von Schnee und Wald stieg mir in die Nase, gepaart mit dem verblassenden Duft eines herben Männerdeos. Der Geruch hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich weinte nur noch stumm in seine Brust.
       Reece sagte kein Wort, sondern hielt mich einfach nur fest in seinen Armen. Hier, wohlbehütet in seinen Armen, gingen selbst die lauten Geräusche des Blizzards unter und sogar das Knistern des Feuers im Kamin. Ich hörte das laute Heulen des Windes nicht mehr, ich hörte nicht mehr, wie das Feuer züngelte und knisterte. Hier in seinen Armen spielte das alles keine Rolle mehr. Alles, was ich hörte, war das stetige Schlagen seines Herzens, dass direkt an meinem Ohr schlug. Bumm bumm. Bumm bumm. Eingelullt von diesem Geräusch rückte die Realität immer mehr in den Hintergrund.
       Meine Augenlider klappten immer wieder zu, meine Gedanken wurden ruhig und der drückende Schmerz in meiner Brust, der mir den Atem raubte, verebbte. Meine Brust hob und senkte sich nach einer Weile wieder gleichmäßiger und vollkommene Ruhe strömte durch meinen Körper, obwohl draußen ein Blizzard und in meinem Herzen ein Sturm tobte. Reece hielt mich weiter fest und... summte. Ich spürte das Vibrieren an meinem Ohr und später in meinem ganzen Körper. Sein Summen klang in meinen Ohren wider und drang in meinen Kopf ein.
      Es war eine Melodie... eine Melodie so schön, dass ich ein Kribbeln tief in meinem Inneren spürte. Es war ein Schlaflied. Die Melodie war ruhig und langsam, sanft und wunderschön. Meine Augen klappten zu, ehe ich es verhindern konnte. Das sanfte Summen trug mich hinfort in eine warme, sanfte Dunkelheit, die mich willkommen hieß. Vor meinem Augen sah ich eine Winterlandschaft, die im warmen Sonnenlicht schimmerte. Eiszapfen funkelten, der Schnee erstrahlte in einem hellen Licht, eine Herde an Bisons zog vorbei, ihr Atem flog in Wolken zum Himmel hinauf. In der Ferne heulte ein Wolfsrudel. Das Summen drang noch immer an meine Ohren, doch wurde leiser und leiser. Bis es schließlich verstummte und ich ganz von den Wogen des Schlafes mitgezogen wurde.

Frozen Together ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt