22. Kapitel

2.5K 145 3
                                    

     Eisige Nadeln schienen auf meinen Wangen zu stechen und meine Lippen waren ganz trocken vor Kälte. Der Rest meines Körpers war in der dicken Decke eingewickelt. Wie lange ich schon auf dem Schlitten lag wusste ich nicht mehr. Es kümmerte mich auch nicht. In diesem Moment war alles zeitlos. Hier, mitten in der Wildnis von Alaska gab es keine Zeit und keinen Raum. Es gab nur diesen Moment. Diesen Moment der Freiheit. Durch die Natur zu fahren, ohne Autos, ohne andere Menschen, war es befreiendes. Man erkannte, wie schön die Welt war. Man sah ihre Schönheit und wünschte sich, dass hier für immer zu sehen.
     Es gab nichts Schöneres als die kalte Luft in meine Lungen zu saugen und den Winter zu schmecken. Der Winter in Alaska hatte seinen ganz eigenen Duft. Wie jede Stadt ihren eigenen Duft zu haben schien. In Alaska schien die Freiheit im Winter zu liegen. Ich konnte es nicht anders beschreiben. Wenn man die kalte Winterluft einatmete, spürte man wie Freiheit durch seinen eigenen Körper floss. Man spürte alles, was man manchmal in der Stadt übersah. Ich hörte die Tiere, ich hörte den Schnee unter den Kufen, ich hörte die Hunde, ich hörte meine Atmung, Reece' Atmung und die Stimme der Natur. Dieser Moment war alles.
     Alle Sorgen, Gedanken, Ängste und andere negativen Dinge wichen von mir. Es gab sie einfach nicht und würde sie auch nicht geben. Zumindest nicht jetzt. Nicht in diesem Moment. Reece erkundigte sich immer wieder ob bei mir alles okay war, ob mir kalt war, ob ich eine Pause wollte und so weiter. Doch ich wollte keine Pause. Ich wollte den Fahrtwind genießen, ich wollte alles genießen. Einfach alles. Nach einer Weile, als es langsam schon dämmrig wurde, legten wir eine Pause auf einer Lichtung ein. Nachdem ich mich aus der Decke gewickelt hatte, stand ich auf, um mir die Beine zu vertreten. Die Hunde rollten sich im Schnee zusammen.
     »Wie weit ist es noch?«, hakte ich nach. Reece zuckte mit den Schultern. »Es könnte noch eine Stunde dauern. Wir kommen auf jeden Fall rechtzeitig, um das Zelt aufzubauen. Es lässt sich relativ leicht aufbauen und dann können wir gemütlich am Feuer kochen und dann wirst du die Überraschung sehen.« Nun sah ich ihn mit großen Augen an. »Was ist das für eine Überraschung?« Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Das wirst du dann schon sehen. Sei nicht so neugierig.« Schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust, was ihn lachen ließ. Dann hielt er mir einen Becher mit Tee hin, den er aus der Termoskanne hatte. Gierig schlangen sich meine kühlen Finger um den warmen Becher und ich nahm einen großen Schluck, nur um es dann zu bereuen.
     Meine Finger hatten die Wärme angenehm gefunden, meine Zunge allerdings nicht. Keuchend fächerte ich mir Luft zu, was Reece leise lachen ließ. »Tja. Wer gierig ist.« Spielerisch schlug ich ihm gegen die Schulter, lachte aber selbst. Dieses befreite Gefühl auf meiner Brust war... wunderschön. Ich liebte es. Ich wollte es nicht mehr hergeben. Dieses Gefühl hatte ich nur bei ihm. Niemand anderes konnte es mir geben. Trotz meiner brennenden Zunge und dem Gefühl ein Brandeisen im Hals zu haben, war dieser Moment alles, was ich wollte. Dieses Gefühl der Lebendigkeit, dass ich in Kanada einfach nicht fand. Mit dem Tod meiner Eltern schien es verschwunden zu sein.
      Die Leute schienen recht zu haben, wenn sie sagten, dass man dort, wo man gebrochen wurde, nicht wieder heilen kann. In Kanada fand ich einfach keinen Anschluss mehr, wie mir in diesem Moment bewusst wurde. Dort gab es nichts, was mich dort hielt. Nicht mal meine „Familie". Sie alle schienen mich zu hassen. Ich selbst hatte mich lange gehasst, nur um zu verstehen, dass ich nicht die Schuld an dem Unfall trug. Es hatte lange gedauert und auch heute glaubte ich es noch manchmal. Doch es war in Ordnung. Zumindest jetzt, wo mir klar wurde, was ich wirklich wollte. Ich wollte endlich nicht mehr das Gefühl von Zwang haben. Das wollte ich einfach nicht.
      Dennoch schien ich es zu haben. Diesen Zwang. Die Lebensfreude und ihre Leichtigkeit blieb aus, wenn ich dort war. Sobald ich das Café betrat, spürte ich es. Diesen Druck und diese Erwartungen, die andere Personen an mich hatten. Den Hass, den meine Familie mir gegenüber zeigte. Zudem hatte ich nicht sehr viele Freunde. Um ehrlich zu sein wollte ich auch keine. Denn viele hatten meine Probleme nie verstanden. Niemand verstand mich so gut wie Reece es tat. Er verstand mich. Er verstand mich in jedem meiner Worte, ohne dass ich mich groß erklären musste.
      Er wusste, wie es in mir aussah. Er wusste, was mich beschäftigte. Er wusste es einfach. Ein schöneres Geschenk konnte man mir nicht machen. »Du grinst, obwohl ich sicher bin, dass deine Zunge brennt. Wie kannst du da grinsen?«, unterbrach Reece meine Gedanken. Grinsend zuckte ich mit den Schultern. »Meine Gedanken lassen mich eben grinsen.« Reece neigte den Kopf und seine eisblauen Augen musterten mich. Obwohl die Farbe seiner Augen so eine kalte Farbe war, war sie wunderschön und der Ausdruck in seinen Augen drückte Wärme und Zuneigung aus.
     Das komplette Gegenteil von dem, was er mir am Anfang gezeigt hatte. Zu Anfang war da reine Kälte in seinen Augen gewesen. Eine Kälte, die bis in mein Innerstes gedrungen war. Jetzt, genau in diesem Moment, versprühten sie Wärme, die sich in mich hineinlegte und sich in meinem Körper verbreitete. Die Kälte, die von außen kam, schien keine Chance zu haben sich auch nur in meinem Körper zu verbreiten. »An was denkst du?«, fragte er leise nach, zögerlich, als wäre er sich nicht sicher, ob er die Antwort wirklich wissen wollte. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Frozen Together ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt