𝔼𝕟𝕥𝕤𝕔𝕙𝕖𝕚𝕕𝕦𝕟𝕘

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte schien die Sonne direkt in mein Gesicht. Die Strahlen waren nicht besonders hell oder warm, aber ich spürte sie. Erst jetzt realisierte ich, dass ich doch tatsächlich die ganze Nacht an meinem Schreibtisch geschlafen habe. Ich guckte auf mein Handy. 8:39 Uhr, Samstag Morgen. Ein bisschen verträumt stand ich auf und machte mich fertig, während ich überlegte, was ich heute alles machen könnte. Als ich fertig geduscht mit einem Handtuch um meinen frierenden Körper vor dem Kleiderschrank stand, fiel mir ein Schwarzer Trainingsanzug auf, der mit roten und goldenen Details versehen ist. Der Anzug von meinem letzten Wettkampf. Ich beschloss ihn anzuziehen, weil er so schön ist. Jedoch musste ich feststellen, dass er nicht mehr so saß wie er sollte. Er war ziemlich eng und sah auch überhaupt nicht mehr schön oder sportlich an mir aus. Entweder habe ich einiges zugenommen in letzter Zeit oder ich bin einfach gewachsen. Ohje, was mache ich nur, wenn ich in den Anzug für nächste Woche nicht mehr reinpasse? Meine Trainerin wird bestimmt ziemlich enttäuscht sein. Außerdem kann ich ja schlecht so zu den Deutschen Meisterschaften antreten. Ich sehe ja aus wie eine Presswurst in dem Ding, mich würden bestimmt alle auslachen.
Schnell zog ich den Anzug wieder aus und suchte mir weiter Trainingsklamotten raus. Gerade als ich die Treppe runtergehen wollte, hörte ich wie die Haustür ins Schloss fiel. Komisch. Sofort rannte ich runter und schaute aus dem Küchenfenster raus. Es war tatsächlich Dad, der nun ins Auto stieg und losfuhr. Wo will der denn um diese Zeit an einem Samstag hin? Während ich mich immer noch darüber wunderte, wieso er mir nicht mal Bescheid gesagt hatte, machte ich mir ein Toast zum Frühstück. Ich starrte es an. Sollte ich es essen? Essen kann ich auch später und und Appetit hatte ich jetzt auch nicht wirklich. Außerdem passe ich bei der Anprobe sonst nicht in den schönen Anzug. Auch wenn mein Magen jetzt schon knurrte, wollte ich gerade echt kein Essen in mir spüren und schmiss somit das Toast wieder weg, packte meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg zur Halle. Ich musste mir keine Gedanken drüber machen ob oder wie ich reinkommen würde, denn meine Trainerin hatte mir vor einiger Zeit einen Schlüssel gegeben, damit ich jederzeit trainieren konnte. An der Halle angekommen war ich erstaunlicher Weise aber nicht die einzige. Hannah, eine sehr gute Turnerin war ebenfalls schon da und lief sich gerade warm. Mit einem Kopfnicken zur Begrüßung verschwand ich schließlich in die Umkleide um mir andere Schuhe anzuziehen. Nachdem auch ich mich eingelaufen hatte und mit dem Training anfing, merkte ich, dass wir nicht mehr nur zu zweit waren. Jeder trainierte vor sich so ein bisschen hin . Ich konnte mich jedoch nach einiger Zeit kaum noch konzentrieren, weil mein Magen die ganze Zeit knurrte. Also setzte ich mich auf eine Bank am Rand um eine Pause zu machen und Wasser zu trinken . Doch genau in diesem Moment ertönte durch die gesamte Halle ein lauter Schrei. Als ich mich umsah konnte ich erkennen , dass Hannah auf dem Boden lag und sich nicht mehr bewegte. Sofort eilten alle zu ihr um ihr zu helfen. Mir wurde es zu bunt und ich beschloss schnellstens abzuhauen, denn Hilfe hatte sie ja genug. Ich wäre sowieso nur überflüssig. Gerade als ich aus der Umkleide ging, kamen mir auch schon 4 Sanitäter entgegen. Das ging aber schnell. "Was ist passiert, wo müssen wir hin?" fragte mich einer von ihnen. Total überfordert schaute ich sie an. Ich war komplett bewegungsunfähig in diesem Moment und wusste noch nicht einmal warum. "Hey alles klar bei dir? Geht es dir nicht gut?", fragte die Stimme erneut. Als eine Hand auf meiner Schulter lag klarte ich erst wieder auf. die Übelkeit und das ungute Gefühl in mir schluckte ich runter, denn das lag bestimmt nicht an ihnen. Dann schaute ich die Person nun an. Es war eine hübsche junge Frau. Ihre Kollegen waren weg, sie haben den Weg also auch ohne mich in die Halle gefunden. "Du siehst ein bisschen blass aus. Alles okay?", fragte sie erneut. "Jaja alles gut, ich muss jetzt auch ehrlich los", entgegnete ich schnell ohne sie noch einmal anzuschauen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern ging ich an ich vorbei. Auf dem Weg nach Hause überdachte ich die Situation noch einmal. Ich genoss den kalten Wind in meinem Gesicht, doch in Gedanken suchte ich immer noch zweifelhaft nach einer Erklärung warum ich so abgetreten war als mich die Sanitäterin angesprochen hatte. Hatte es was mit Mom zu tun? Verknüpfte ich damit schlechte Erinnerungen, die ich die ganze Zeit unbewusst verdrängt habe? Oder lag es einfach daran, dass es ihr Beruf war anderen zu helfen, ich aber keine Hilfe wollte oder annehmen konnte und Angst hatte, dass sie es trotzdem versuchen würden? Ich wusste es nicht. Zuhause angekommen machte ich mir einen Tee und checkte mein Handy. 49 neue Nachrichten aus der Rhönrad-Gruppe. 'Hannah ist aus dem Rad gefallen. Es geht ihr einigermaßen gut, die Ärzte haben gesagt sie war völlig unterzuckert und dadurch vermutlich unkonzentriert' las ich. Ob sie wohl auch nichts gegessen hat um im Anzug gut auszusehen? Dass sie eine Essstörung hat wusste ich, aber ob sie wirklich rückfällig geworden ist? In diesem Moment freute ich mich, dass ich bis jetzt noch nichts gegessen hatte. Ich fühlte mich gut und leicht. Auf einmal stand Dad vor mir. "Wollen wir uns eine Pizza von deinem Lieblings-Italiener bestellen?", fragte er und lächelte ziemlich deutlich und das zum ersten mal seit einiger Zeit wieder. Ich überlegte. Pizza? Die ist bestimmt nicht förderlich, wenn ich bis nächste Woche wieder in den Anzug passen und vor allem darin gut aussehen möchte. Dass dieses Ziel eigentlich sogar relativ unrealistisch war wusste ich selber, aber der Gedanke jetzt noch mehr zunehmen zu können beunruhigte mich. Er schaute mich erwartungsvoll an und ich musste eine Entscheidung treffen. Aber diese stand eigentlich schon fest: ich wollte dünner werden, wollte dass Dad mich wahrnimmt oder sich Sorgen macht, endlich Zeit mit mir verbringt und sieht, dass mein Leben nicht perfekt läuft, ich nicht nur funktionieren kann und will. Aber ich wollte auch endlich wieder mehr Kontrolle, wollte wieder hübsch sein, so wie Hannah es ist. Sie hat so viel Disziplin und Ehrgeiz dadurch entwickelt. Das wolle ich auch. Eigentlich wollte ich ja nicht, dass irgendjemand denkt, ich wäre schwach, aber gerade in solchen Momenten wünschte ich mir manchmal nichts sehnlicher, als endlich wahrgenommen, geliebt und als Mensch geschätzt zu werden, anstatt immer auf meine Leistungen reduziert zu werden. "Ach weißt du, ich war eben mit Leuten aus meiner Trainingsgruppe schon was essen, ich habe gar keinen Hunger mehr. Ein anderes mal vielleicht", antwortete ich und nahm kurz darauf einen enttäuschten Gesichtsausdruck von im war. Ich fühlte mich schlecht, aber innerlich wusste ich, dass das lange nicht so schlimm war wie seine ständigen Absagen. Ich verkroch mich für den Rest des Tages in mein Zimmer und stöberte stundenlang im Internet herum.

ASDS - to know you is to love you 🦋Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt