Chapter 12 - Totgeburt

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Rose

,,Du wirst das schaffen, denn du..." Evans restliche Worte gingen einfach unter. Unter, in den lauten, piepsenden Geräten, den leisen Gesprächsfetzen der Krankenschwestern und Ärzten im Nebenraum, aber auch meinem kläglichen, schmerzhaften Stöhnen, bei jeder regelmäßigen, recht häufigen Wehe.

Ich sah auf, als die Tür des Kreissaals aufschwang. Mein Mund, nein, mein ganzer Hals wurde augenblicklich staubtrocken. Trockener wie die gottverdammte Sahara. Denn die vielen Schwestern und die zwei Ärzte trugen bereits die kreissaaltypischen, blauen, sterilen Overroals. Warum mussten es ausgerechnet zwei Ärzte sein...? Hätten es nicht zwei Ärztinnen sein können? Ich will mich eigentlich nur ungern zwei wildfremden Männern bei der Geburt zeigen.

Doch hinter der ganzen Mannschaft an Krankenhauspersonal kamen noch zwei Menschen zu Vorschein. Zwei Menschen, die ich abgrundtief verachte. Evans Tante Paris und seinen Onkel James.

Die beiden waren mal wieder völlig unpassend gekleidet. Er trug einen schwarzen, seidenen Anzug, der im grellen Licht der Neonröhren edel, luxuriös glänzte. Seine Frau trug ein knielanges, langärmeliges, purpurfarbenes, eng anliegendes Kleid, das wahrscheinlich ein halbes Vermögen wert war.

,,Evan! Zu schön dich wiederzusehen mein Neffe!" Paris klatschte freudig in die Hände. Meiner Meinung nach viel zu freudig. Es gab nichts mehr, auf das man sich freuen konnte. Mein eigenes, kleines Baby war in meinem Bauch gestorben. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Ich kann nichts. Ich kriege einfach nichts gebacken im Leben. Ich kann nicht mal meinem Kind das Leben auf dieser Welt schenken. Faktisch habe ich mein Kind getötet. Ich bin an allem Schuld. Ich hätte die Anzeichen spüren müssen. Ich muss sie ignoriert haben. Ich habe meine Zea auf dem Gewissen, weil ich es nicht gemerkt habe, dass es ihr schlechter ging. Und als gute, vorbildliche Mutter hätte ich das tun müssen... Ich bin so eine Versagerin... Einfach ein Loser... Aber das war ich schon immer...

Evan rollte offensichtlich, entnervt die Augen. Die Arme resigniert vor der Brust verschränkt. Das eine Bein bequem auf dem anderen abgelegt. Seinem Blick konnte man ablesen, dass nicht nur mir alleine, sondern auch ihm, der Kopf leergefegt wurde. Vom Schicksal. Welches uns ganz hinterlistig, gemein hintergangen hat. Es hat ungefragt, blitzschnell, ohne je nachzufragen, die Baupläne für unsere jeweiligen Leben ausgetauscht. Alles steht auf dem Kopf. Und wir realisieren es einfach noch nicht. Wir befinden uns gerade im freien Fall. Das Schicksal hat mit einer spitzen Nadel die glitzernde, hauchdünne Haut der Seifenblase zerstochen, in der wir uns zu dritt befunden haben. In der wir zu dritt durch die Atmosphäre geflogen sind. Weit über den Wolken. Zusammen sahen wir auf den rosaroten Sonnenuntergang, der dazu bestimmt war, ewig zu bleiben. Bis, als die Nadel die Haut durchstieß, ein Blitz die himmlische, göttliche Ruhe zerstörte. Grelle Blitze, angsteinflössende Donner, machtdemonstrierendes Grollen. All das geschieht derzeit, während Evan und ich im freien Fall in Richtung Abgrund sind. Zu zweit und dennoch jeder alleine. Jeder von uns hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Jeder hat anders empfunden. Jeder von uns muss das alleine durchmachen, so schlimm es auch klingt. Wir sind zwei unterschiedliche Menschen, die einen gemeinsamen Nenner fanden: Unser gemeinsames Kind. Doch nun? Nun haben wir wieder diesen Nenner verloren und nun sind wir wieder nur zwei verwirrte, entfremdete Seelen, die sich nacheinander verzehren und dennoch Abstand zu einander wahren, weil es schlicht und einfach zu schmerzhaft, zu verletzend ist. Sich wieder aufeinander einzulassen.

,,Hör auf zu schreien...Meine Güte... Da bekommt man doch Kopfschmerzen..." Während Paris Kopfschmerzen bekam, starb ich fast vor Schmerzen. Ich dachte früher tatsächlich, es gäbe keine schlimmeren Schmerzen, wie die Periodenkrämpfe. Doch ich wurde am Heiligabend 2020 eines Besseren belehrt. Wehen sind das Schlimmste. Einem geht der Hals zu, man kann nicht mehr atmen, der Hals wird trocken und alles krampft. Jeder einzelne Muskel. Muskeln, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren.

,,Wenn es dich anpisst, dann warte draußen. Rose macht das sehr gut", schnauzte Evan gereizt. Ich hörte Paris sarkastisch kichern. ,,So gut... Dieses Mädchen hat dein Kind auf dem Gewissen..."

Wir alle sahen zu ihr. Die Ärzte, Evan, ich, jeder! Ihr fragt euch, warum eigentlich Paris und James im Krankenhaus sein durften, während des Lockdowns? Ganz einfach. Ihnen gehört doch der Grund, auf dem das Krankenhaus steht. Das bedeutet, die McBrowne's werden hier wie Könige behandelt. Beste Ärzte, beste Untersuchungsgeräte, beste Zimmer, ja sogar bestes Essen. Dementsprechend traute sich die Leitung des Krankenhauses auch nicht die zwei wegen Corona wegzuschicken. Es war eh schon ein Wunder, dass Evan überhaupt mit dabei sein durtfe. Ich habe nämliche schon ein dutzend Berichte gehört, bei denen erzählt wurde, dass die Väter nicht bei der Geburt dabei sein durften. Und das ist echt fahrlässig. Meiner Meinung nach. Eine Geburt ist nicht wie Weihnachten, dass jedes Jahr wieder stattfindet. Eine Geburt findet nur einmal statt. Man kann sie nie wieder wiederholen. Die Väter haben, sie gesagt, meiner Meinung nach, auch ein Recht dabei sein zu dürfen.

,,Raus! Aber sofort!" Ich zuckte zusammen. Evan brüllte ohrenbetäubend laut. Ich hatte sogar das dringende Bedürfnis mir die Ohren zuzuhalten. ,,Es reicht jetzt! Rose ist nicht für Zea's Tod verantwortlich! Wenn ihr nicht unterstützen wollt, dann verschwindet! Auf der Stelle!"

,,Danke Evan..." ,,Kein Problem mein Engelchen." Evan strich mir über den Kopf. Küsste liebevoll meine Stirn. ,,Du bist eine Heldin. Du schaffst das. Das weiß ich."

Ich dachte, ich müsse sterben. Als nach Stunden von Qualen endlich meine kleine Tochter geboren wurde. Noch nie im Leben hatte ich solche Schmerzen gehabt. Doch der Schmerz war es wert. Endlich durfte ich mein Kind kennenlernen. Ich durfte sie sehen. Sie anfassen. Doch nur ein einziges Mal.

,,Oh meine Gott. Rose, du hast es hinter dir. Du hast es geschafft." Meine Tante drückte meine Hand und schenkte mir ein warmes, tröstendes Lächeln. Es wirkte sogar ein wenig. Es war wie der kurze Lichtblick, der wärmende Sonnenstrahl, der zwischen dem, mit dunklen, schweren Regenwolken verhangenen, Himmel wenn sich durchzwängte. Doch wie auch ein Sonnenstrahl, verschwand diese tröstende Geste so schnell, wie sie gekommen war.

Ich wollte sie ansehen. Anfassen. Doch alles war so schwer. So ermüdend. Ich wollte bloß schlafen. Alles vergessen. Und dann aus diesem zum Täuschen ähnlichen Alptraum aufwachen. In meinem warmen Bett aufwachen, panisch schnaufend meinen kugelrunden Bauch ertasten und eine Bewegung meiner agilen, munteren Maus spüren.  Doch leider war dies kein Traum. Es war die verfickte Realität. Ich hatte meine Tochter verloren. Sie würde niemals leben. Sie wurde still und heimlich zu einem glitzernden, hell funkelnden Sternchen am Nachthimmel. Ohne, dass ihre Mama und Papa etwas dagegen tun konnten.

Faithful secrets Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt