Chapter 14 - Suizidal

52 5 0
                                    

Rose

Ich sprintete durch das hohe Gras. Es schnitt scharf meine nackten Schenkel blutig. ,,Rose warte!" David's Stimme ging kläglich im lauten Wirrwarr der Autogeräusche unter. Ich kletterte hastig über das kalte, stabile Metall der Leitplanke.

Er kam dahinter zum Vorschein. Völlig verstört. Völlig gelassen, stand er da. Mitten auf der Straße. Hunderte Autos rasten hupend an ihm vorbei. ,,Evan!" Ich schrie aus lautester Kehle zu ihm rüber. Auch wenn wir nur wenige Meter voneinander entfernt waren, doch uns trennten zig Autos mit tödlicher Geschwindigkeit. Es war unüberwindlich.

Ein Windstoß. Ich blickte nach drüben. David kam schnaufend zum Stehen. Er hielt mich an den Armen fest. Alles in mir schrie danach zu Evan zu rennen. ,,Rose, das ist eine Straße! Du kannst nicht rüber rennen!" ,,Aber ich muss...EVAN!"

Er blickte nicht einmal her. Er starrte paralysiert auf die vielen Autos. Er war in einer ganz anderen Welt. ,,Jetzt macht endlich!", brüllte er. Er brüllte die Autofahrer an, damit sie ihn anfahren? ,,Lass mich jetzt los!"

Ich entzog mich kompliziert aus dem festen Griff meines besten Freundes. Ich schloss die Augen und lief einfach los. Trotz aller Umstände. Und der Tatsache das ich zu 99 Prozentigkeit überfahren werde.

Doch merkwürdiger Weise knallte ich unsanft gegen etwas ausgesprochen Hartes. Ich schlug die Augen auf. Sah nach oben. Und erblickte einen noch verwirrteren Evan. ,,Rose?" Ich schlang meine Arme um seinen schlanken und dennoch athletischen Oberkörper. ,,Evan, komm!" Ich zog ihn an der Hand. Ich kämpfte erneut um sein Leben. Doch dieses Mal auch noch um mein eigenes. Ich zog ihn von der Straße, obwohl er es nicht wollte. Ich riss an diesem völlig suizidalen Menschen mit letzter Kraft.

Ich musterte sein ruhiges, entspanntes Gesicht. Evan atmete ruhig. Er schlief wie ein Baby. Aufgrund der vielen, starken Medikamente, die sie ihm in dieser psychiatrischen Klinik gegeben haben. Es tat mir weh. Ihn so zu sehen. Evan war fixiert an den Handgelenken. Es war schlimm, dieser Anblick, obwohl es nur zu seinem Besten ist. Ich will ihn nicht verlieren. Niemand will Evan verlieren. Ich strich ihm eine Locke aus seinem hübschen, attraktiven Gesicht. Alles an ihm ist so...süß. Wie Zuckerwatte. Ich lehnte mich runter und drückte einen sanften Kuss auf seine Nasenspitze. ,,Ich liebe dich Evan. So unendlich sehr. Ich vermisse Zea auch, ja, unsere kleine Maus ist von uns gegangen, aber das heißt nicht, dass du mich nun auch noch verlassen musst, okay?" Ich legte meinen Kopf auf seine Brust. Sie hob und sank sich regelmäßig unter mir. Ich schloss müde die Augen und umarmte ihn.

Ich sog scharf die Luft ein, als seine langen Finger durch meine Haare wanderten. Naja, so gut es eben ging, immerhin war er ja am Bettgestell fixiert. ,,Wie geht es dir mein Engelchen?" Seine Stimme war kaum hörbar. Dünn, leise und zerbrechlich. Ungewohnt. Für seine Verhältnisse. ,,Schlecht..." ,,Mir auch, mir auch..." Da brach es aus mir raus. Ich schluchzte laut auf. Ich will Evan nicht verlieren. Er ist alles, was ich will. Alles, was ich je hatte und je haben werde.

,,Was ist geschehen? Warum bin ich gefesselt?" Ich hob meinen Kopf. Huh? Ich folgte seinem Blick zu den Lederfesseln. ,,Du warst doch auf der Autobahn...Du wolltest doch dein Leben nehmen..." Weiß er das etwa nicht mehr? Wie kann das sein? Evan sah mich wie ein Auto an. Er verstand die Welt nicht mehr. ,,Ich habe dich doch von der Fahrbahn gezerrt... Weißt du das etwa nicht mehr?" Evan schüttelte bloß den Kopf. Er gähnte lange.

,,Du hast dein Leben aufgrund meines auf's Spiel gesetzt?!" Erst jetzt schien er zu verstehen, was ich da geleistet habe. Trotz der traumatischen Geburt, die ich nur wenige Stunden zuvor hinter mich gebracht hatte. Ich nickte verlegen. ,,Danke Rose..." Nicht nur ich war verlegen. Auch er. Er schien das gar nicht in Worte fassen zu können. Er war viel zu beeindruckt, überwältigt davon. Bis er der Kopf schüttelte und seufzte. ,,Ich hab gar nicht gefragt, wie es dir physisch geht? Hast du Schmerzen? Solltest du nicht diejenige sein, die im Krankenhaus ist?" ,,Schon. Ich habe Schmerzen. Ich blute wie ein Schwein. Ich muss auch wieder zurück. Bald....Schau." Ich saß auf seinem Bett, als ich die Beine etwas auseinanderschob und die Blutflecken auftauchten. ,,Ich muss die Einlagen mal wechseln, sonst mache ich am Ende noch Flecken, weil das ist..." ,,Geh."

,,Was?" Evan nickte ernst. Er legte seine Hand auf meinen Arm. ,,Geh Rose. Du gehörst in ein Krankenhaus. Du hast schon genug für mich getan. Du hast mein Leben gerettet, du hast mich gerettet. Lass dir das mal auf der Zunge zergehen. Du Himmelsgeschenk, du hast mich heute das zweite Mal vor dem Suizid gerettet. Okay? Du hast wirklich genug getan. Mehr kannst du nicht tun. Den Rest muss ich mit mir selbst und einem Psychologen ausmachen. Ich bitte dich Rose, geh jetzt. Unser Kind ist bereits von uns gegangen, ich will nicht, dass dir auch noch was zustößt. Jetzt erhebe deine vier Buchstaben von diesem ekligen Krankenhausbett und lass dich behandeln. Bitte."

Widerwillig rutschte ich von dem hohen Bett, welches nach Desinfektionsmittel stank. Evan sank zurück in die Kissen. Er lächelte zufrieden, gütig. ,,Danke Rose." Er drückte meine Hand zur Aufmunterung. ,,Evan?" ,,Ja?" Ich drehte mich zu ihm um. Und legte völlig unvorbereitet meine Lippen auf seine.

Evan küsst so unendlich gut. Noch nach so vielen Monaten. Seine Lippen, seine Zunge, einfach alles ist so... Besonders. Ich weiß nicht warum, aber er hat eine so merkwürdige, sonderbare und dennoch so unglaubliche Wirkung auf mich. Dieser Kuss... Er hatte etwas ganz Außergwöhnliches an sich. Es war quasi ein Dankeschönkuss. Ein Zweite-Chance Kuss. Ein Ich-liebe-dich-du-strohdummer-Idiot-Kuss. Unsere Zungen tanzten seit langer Zeit wieder so...so... So im Einklang miteinander. Sie brauchten sich. Wir brauchten uns.

,,Wenn du jetzt nicht verschwindest...Ich schwöre dir, ich verplappere mich noch und bereue es am Ende", keuchte Evan tonlos zwischen den Küssen. ,,Und was wirst du bereuen?" ,,Das ich dich gehen gelassen habe. Rose, wenn du jetzt nicht verschwindest, ich verprügel dich, bis der Krankenwagen von alleine kommt." ,,Ja, ja, ja du Nervensäge", kicherte ich und klaute mir noch einen Kuss. Fuck, am liebsten würde ich hierbleiben. In seinen Armen, seinen Geruch einatmend und mich zwischen seinen Berührungen verlieren. Aber leider hat er Recht. Ich muss zurück ins Krankenhaus. Das Wochenbett wartet fußtippelnd auf mich.

Faithful secrets Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt