Chapter 13 - Flucht

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Evan

Ich schnitt stolz die Nabelschnur durch. Auch wenn unsere Prinzessin bereits verstorben war, es gab dennoch der Geburt einen Hauch von Normalität. Kaum war der Schnitt gesetzt, da fiel mein Blick auf Rose. Sie lag in einem Bett, extra für Geburten. Dieses höhenverstellbare Bett... Es war fast blutgetränkt. Ich werde nie wieder diese Bilder aus meinem Kopf bekommen. Draußen schneite es die Straßen zu, die ersten Krankenwägen waren zu hören, die den verletzten Autofahrern helfen sollten, Rose, die mit gespreizten Beinen, geschlossenen Augen und leicht geöffneten Mund da lag. Auf einem blutigen Bett, der ältere Arzt mit meinem toten Baby in den Händen und dem, in den wahnsinntreibenden, schrillen Ton in meinen Ohren. Überall war Blut. Auf meinen behandschuhten Händen, auf der Schere, die ich mit zittrigen Fingern hielt, auf den weißen Arztkitteln und nicht zu vergessen, überall abwärts auf der jungen, schlafenden, nein eher ohnmächtigen Frau, die ich so sehr liebe. Ich...ich muss hier raus! Und zwar dringend!

Ich ließ die Schere fallen, riss mir den Mundschutz vom Gesicht und sprintete nach draußen. Ich rannte. Ich rannte vorbei an verwirrten Schwestern, an anderen Patienten, die mir panisch, im letzten Moment, noch auswichen, bevor ich sie umgerannt hätte und ich rannte an meiner und ihrer Familie vorbei. Schreie. Ich hörte ihre fassungslosen, lauten Schreie. Schreie, die mich aggressiv dazu aufforderten zurückzukehren. Schreie, die sich in mein Hirn fraßen und mich von innen heraus quälten. Ich ließ meine Rose im Stich. So wie es das Schicksal gewollt hat. Und schon immer geplant hatte.

,,Evan, bleib stehen! Wo willst du hin?! Du musst..." Ich hörte das laute Klackern von Absätzen. Paris. Tante Paris war dicht auf meinen Fersen. Trotz ihrer hohen Hacken. Ich streifte beim Laufen die blutverschmierten Handschuhe, Kittel, wie auch Haube ab. Alles landete mitten im frisch geputzten Krankenhausgang und hinterließen einen leicht blutigen, nassen Fleck. Ich hechtete atemlos durch die Gänge. Nach dem Ausgang suchend. ,,Evan, bleib stehen!"

Nein. Nein. Nein. Und nochmal Nein. Paris ist einer der Menschen, warum ich diese Stadt, dieses Leben, die Person, die ich vor mir sehe, wenn ich morgens, schlaftrunken in den Spiegel sehe, so sehr hasse. Ich habe schon zu oft angehalten. Schon zu oft wieder umgekehrt. Ich kann nicht mehr. Es frisst mich auf. Dieser Gedanke sie beerdigen zu müssen. Mein totes Kind allein anzusehen. Wie es so ruhig, so bewegungslos, so würdevoll in seinem kleinen Sarg liegt. Ich kann das nicht sehen. Ich kann damit nicht umgehen. Nicht nur, weil ich seit ich seit 2 Monaten endlich clean bin, kein Nervenberuhigungsmittel, namens Alkohol, mehr habe, sondern, weil es einfach zu herzzerbrechend ist. Mein Herz wird das nicht aushalten. Es ist bereits zu spröde, zu träge, zu orientierungslos, um diesen Anblick stand zu halten. Es wird sofort brechen. Wie das dünne Glas eines Glasstrohhalms. Ein paar Mal hat es Rumkauen schon ausgehalten, doch jetzt? Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem es knackt und man den Mund voller Splitter hat. Den Mund voller Blut. Es ist die Zeit gekommen, an dem mein Herz voller Blut ist. Es läuft über. Mit Blut. Und niemand wird mehr ein Plaster drüber kleben können, in Form von schnulzigen, doppelzüngigen Liebesbekundungen oder trügerischen, manipulierenden Berührungen. 

Ich habe mich wirklich zusammengerissen. Für Zea. Doch jetzt? Es gibt keinen Grund mehr mich zusammenzureißen. Den gibt es einfach nicht mehr. Es ist vorbei. Ihr Leben, mein Leben, meine Motivation, die mich zum Zusammenreißen zwang. Alles ist vorbei. Dahin. Vom Wind weggepustet. Vom Regen abgetragen und mitgeschwemmt worden, in den großen, weiten Ozean.

In schnellen Schritten, mit leerem Kopf und der drängenden Lust nach dem schwarzen Nichts durchquerte ich New York. Ich floh. Vor meiner Verantwortung, meinen Lieben und auch mir selbst. Immer weiter, immer schneller entfernte ich mich vom Krankenhaus, bis nicht einmal mehr die Straße zu sehen war, in der es sich befand. Die Menschen, die wir am meisten lieben, die können uns auch die tiefsten und schmerzhaftesten Narben zufügen. Das Herz ist ein empfindliches, fragiles und dünnhäutiges Organ, welches danach verlangt behutsam behandelt zu werden. Doch mein Organ? Das wurde mehrfach misshandelt, geschlagen und niedergestochen. Nicht nur von Rose. Sondern auch von meiner Familie, meinen Freunden und auch einem Menschen, der mich nicht einmal gesehen oder gar berührt hat. 

Hupende Autos, kalter Asphalt, schreiende Menschen und grelle, blendende Scheinwerfer. Alles an einem Ort. Alles am Highway 95. Und ich mitten drin. Verwirrt, hilflos, desaströs. War...War das Rose am Straßenrand?

Faithful secrets Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt