Miriam wartete bereits in ihrem Büro auf sie. Jess wollte das hier schnell hinter sich bringen, damit sie mit Levi noch Zeit hatte, die Stelle aufzusuchen, an der sie ihn gefunden hatte. Und sie wollte schnell weg, damit nicht noch irgendwelche verrückten Fans auf sie aufmerksam wurden. In der S-Bahn hatte sie einen kurzen Blick in ihr Künstler-Mailfach geworfen und war fast vom Sitz gekippt. Insgesamt hatte sie einhundertachtundfünfzig Nachrichten. Alle nicht älter als vierundzwanzig Stunden. Sie hatte keine einzige davon geöffnet, aber allein die Betreffzeilen hatten ihr gezeigt, worum es ging. Levi.
"Jess, schön dass es so schnell geklappt hat!" Miriam strahlte sie über einen kleinen Schreibtisch hinweg an und kam mit einem Ordner auf sie zu. Hinter Miriam gab eine große Fensterfront den Blick auf umliegende Gebäude frei. Sie konnte von hier aus sogar die Spitze des Berliner Turms entdecken. Ansonsten war ihr Büro eher minimalistisch eingerichtet. Klein, aber fein.
Jess nickte lächelnd. "So etwas kann ich mir doch nicht entgehen lassen", meinte sie und Miriam musste daraufhin lachen.
"Es freut mich, dass du zugesagt hast. Ich war mir nach Roberts Auftritt nicht sicher, ob du überhaupt noch Lust hast, bei uns zu arbeiten." Sie blieb vor ihr stehen und holte einen Packen Dokumente aus dem Ordner.
Verlegen begann Jess mit einer losen Haarsträhne zu spielen. "Nein, nein. Alles okay. Ich war nur erstaunt, dass ihr euch einstimmig dann doch für mich entschieden habt", sagte sie ehrlich und Miriam schenkte ihr ein tröstendes Lächeln.
"Ich weiß, aber Robert hat seine Meinung zwei Tage später geändert. Keine Ahnung, was ihn geritten hat, aber er kam plötzlich in mein Büro und meinte, du wärst doch wohl die beste Wahl."
Irgendwie klang das seltsam, aber Jess beließ es dabei. Die Freude über den neuen Job überwog gerade jegliche Skepsis. Damit würde sie endlich die Miete allein bezahlen können. Und alles andere. Ein großartiges Gefühl!
Schließlich hielt Miriam ihr den Vertrag hin und bat sie ihn zu unterzeichnen, wenn sie soweit damit einverstanden wäre. Obwohl Jess ihn sich mindestens zwei Mal durchlas, blieb kein Fetzen davon in ihrem Kopf hängen. Allerdings gab es auch nichts unübersehbar auffälliges in diesem Vertrag, also unterzeichnete sie ihn. Sie war immernoch viel zu überwältigt von dem, was hier gerade geschah. Solange hatte sie nach einem Job gesucht. Verzweifelt. Dass es nun geklappt hatte, grenzte irgendwie an ein Wunder. Ihre Mutter würde ausflippen, wenn sie ihr davon erzählen würde.
Miriam strahlte über das ganze Gesicht, als sie die Papiere wieder in den Händen hielt. "Ich freue mich so sehr, dich im Team zu haben!"
Jess hätte sie am liebsten umarmt, so angetan war sie von Miriam.
Die hübsche Frau mit dem blonden Dutt sortierte alles wieder ordentlich in den Ordner, während sie weitersprach: "Ich werde dir eine Kopie vom Vertrag zukommen lassen. Du kannst dir nächsten Montag deinen Firmenausweis holen und dein Büro wird dir dann ebenfalls hier zugeteteilt. Du brauchst nichts weiter mitbringen. Wir stellen dir jegliche Technik zur Verfügung und solltest du noch etwas benötigen, sagst du uns einfach Bescheid."
Wow, das klang überwältigend!
"Ich kann es kaum erwarten", erwiderte Jess nur, weil sie vollkommen überfordert von soviel Entgegenkommen war.
Miriam hatte ihren Ordner zurück auf den Schreibtisch gelegt und lehnte sich dann rücklings dagegen, um Jess anzusehen. Ihr Blick wurde nun mitfühlend. "Ich sehe dir die Anspannung an, es ist wegen Robert, oder?"
Es war, als könnte Jess aus Miriams Perspektive sehen, wie sie selbst bei seinem Namen zusammenzuckte. Dabei war Robert aktuell gar nicht das Problem.
"Vielleicht ein wenig, aber ich habe auch privat gerade viel um die Ohren", antwortete sie ehrlich.
Miriam nickte nur, als habe sie verstanden. Jess hoffte, dass Miriam nichts von dem Video, das im Netz von ihr kursierte, gesehen hatte. Sie hoffte, dass niemand von ihrem neuen Team irgendetwas mitbekommen hatte.
Als sich die beiden voneinander verabschiedeten und Jess endlich den Raum verlassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Obwohl sie nur den Vertrag unterzeichnet hatte, konnte sie nicht behaupten, dass sie sich Wohl in ihrer Haut gefühlt hatte... Definitiv war es der ganzen Situation geschuldet, der sie aktuell ausgesetzt war. Sie hoffte dennoch, dass sie mit dem neuen Job etwas Normalität einkehren lassen können würde.
Mit eiligen Schritten lief sie den Flur entlang. Sie wollte schnell zurück zu Levi, der bestimmt schon ungeduldig auf sie wartete. Sie konnte ihn geradezu sehen, wie er auf einem der Sofas in der Lobby saß und unruhig auf sie wartete. Ihre Finger begannen zu kribbeln, wenn sie daran dachte, dass sie mit ihm gleich wieder zu der Stelle musste, an der sie ihn gefunden hatte. Was, wenn dort Fans auf sie warteten?
Jess verstand das nicht. Normalerweise hätte sie sich gefreut, wenn sie jemand als Twitch-Streamerin erkannt hätte, aber irgendwie war das hier etwas anderes. Hier ging es nicht vorrangig um sie, sondern um Levi. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihn erkannte, ansprach oder ihn womöglich ganz und gar beanspruchte. Obwohl es doch gar nicht schlimm gewesen wäre. Wer würde schon glauben, dass es sich bei ihm um den echten Levi Ackermann handelte. Niemand. Alle würden denken, er wäre lediglich das abgefahrenste echt aussehendste Cosplay, das es gab. Und dennoch. Sie wollte das nicht, weil ...
Ruckartig blieb sie stehen und hielt kurz den Atem an.
Sie wollte Levi nicht teilen. Das war es. Und als sie den Gedanken ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es genau das war, worin das Problem bestand.
Ihr Herz polterte schnell bei dieser Offenbarung und sie traute sich kaum sie zu hinterfragen - warum es ihr so erging. Schließlich kannte sie Levi kaum. Es war unmöglich, dass sie sich innerhalb dieser wenigen Tage in einen Typen verschossen hatte, der einem Anime entsprungen war. Es war einfach nicht möglich.
Schnell ging sie weiter und als sie um die nächste Ecke bog, stieß sie gegen jemanden.
"Entschuldigung, ich ..." Als sie aufsah, blickte sie in Roberts dunkle Augen.
Er erkannte sie sofort, denn auf seine Lippen legte sich ein finsteres Lächeln. "Du!"
Jess schluckte und wollte sich an ihm vorbeischieben. Sie war nicht in der Stimmung mit diesem Menschen zu sprechen. Zumindest nicht heute - auch wenn sie durchaus wusste, dass er ihr Vorgesetzter war.
Er packte sie grob am Arm, als sie sich an ihm vorbeidrängeln wollte. "Schön stehen geblieben", sagte er laut und zog sie so unsanft zurück, dass ihr Rücken gegen die Wand stieß. Sein Arm wanderte an ihrem Gesicht vorbei und versperrte ihr einen Weg, um zu entkommen. Was wollte er von ihr? Und warum war er so grob?
Und warum habe ich gerade Angst ...?
"Jess, oder? Willkommen im Team!", sagte er und grinste breit.
"Ja... freut mich", gab sie tonlos zurück und sah an ihm vorbei um ihm zu bedeuten, sie gehen zu lassen. Doch stattdessen drückte er sie noch näher an die Wand und sah ihr tief in die Augen. Jess zuckte zusammen und spürte, wie ihr Herz unruhig polterte.
"Sag mir, ich habe eine Frage: Da kursiert ein Video von dir im Internet mit einem Kerl, der aussieht wie Levi Ackermann. Du kennst ihn, nicht wahr?"
Jess schnappte nach Luft. Warum ausgerechnet Robert? Warum hatte ausgerechnet er das Video gesehen? Wütend funkelte sie ihn an. "Ja, ich kenne ihn. Lass mich jetzt bitte durch!"
"Ich glaube nicht, dass ich das so einfach kann. Wir sind doch jetzt ein Team. Das heißt, wir teilen unsere Informationen miteinander, nicht?"
Jetzt wurde ihr alles klar. Jess fühlte sich, als habe man sie geohrfeigt. Deshalb, hatte Robert sie ebenfalls für den Job haben wollen. Er schien ein wahnsinniger Fan oder irgendwas dergleichen zu sein und war auf ihren Kontakt zu Levi aus. Es war nicht um ihre Fähigkeit gegangen, sondern einzig und allein um Levi.
"Entschuldige, aber er ist ein guter Freund von mir und möchte für sich bleiben", sagte sie schnell und hoffte ihn damit abzuschütteln, doch Robert lachte nur. Kurz und schrill.
"Natürlich, aber dafür ist es zu spät, oder? Ich meine, die ganze Welt kennt den Typen mittlerweile. Erzähl mal, wie funktioniert sein 3D-Manöver-Apparat? Sucht er einen Job? Ich könnte ihm gutes Geld bieten. Jemand wie er, wäre ein echter Kundemagnet für unsere Firma."
"Er hat kein Interesse!", betonte sie erneut und versuchte ihn nun von sich wegzudrücken, als seine andere Hand nach vorn zischte und sich an ihr Kinn legte. Nicht gerade zaghaft. Ein unangenehmer Druck breitete sich auf ihrer Haut aus.
"Na, na, na. Nicht so unfreundlich. Du kannst ihn doch wenigstens mal fragen. Ich meine, du hast schließlich einen neuen Job. Du willst ihn doch nicht sofort wieder verlieren, oder?", fragte er drohend, aber noch immer lächelnd. Er war ihr nun so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte.
Sie wollte gerade etwas erwidern, als Robert mit einem Mal herumgewirbelt wurde und mit einer heftigen Drehung auf der Erde landete. Das Gesicht vorran.
Jess quiekte erschrocken auf und rutschte zur Seite. Als sie Roberts Angreifer erkannte, beruhigte sie sich jedoch sofort.
"Levi?", fragte sie verwirrt. Was tat er hier?
Levis Gesicht war undurchschaubar. Er starrte ausdruckslos auf Robert herab, der schockiert die Augen aufgerissen hatte und Levi ansah.
"Wenn du sie noch einmal anfasst, breche ich dir deinen Arm", sagte er bestimmt.
Robert antwortete nicht, sondern kam stattdessen schnell auf die Beine.
"Levi, das wäre nicht ... Du hättest nicht ...", begann Jess, doch Levi packte sie nur an der Hand und lief mit ihr den Flur entlang. Sie traute sich nicht mehr, sich noch einmal nach Robert umzudrehen."Bist du total wahnsinnig geworden?", schrie Jess, als sie wieder auf der Straße waren.
Ruckartig drehte sich Levi zu ihr herum. Dieses Mal sah er wütend aus. "Warum? Weil ich dich vor diesem Arschloch beschützt habe?"
"Das hättest du nicht tun müssen, ich wäre auch alleine zurecht gekommen", murmelte sie nun und sah zur Seite. Vermutlich entsprach das nicht der Wahrheit, aber sie wollte das gegenüber Levi nicht zugeben.
"Komm schon, ich bin doch nicht bescheuert. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich weiß, was für eine Art von Mensch du bist. Du hättest dich gegen diesen Typen nicht gewehrt. Obwohl er dich so bedrängt hat!"
Zornig sah sie ihn wieder an, doch sofort verschwand die Wut in ihrem Bauch. Levi wirkte verletzt. Oder ... besorgt? Egal was es war, diesen Blick hatte sie noch nie gesehen.
Stöhnend fuhr er sich durch sein Haar. "Verdammt, Jess, ich wollte dir nur helfen. Der Typ sieht schon von weit weg aus, als würde er Ärger machen."
Sie antwortete nicht, weil sie wusste, was Levi meinte. Ein schwaches Seufzen entfuhr ihr. "Danke, Levi."
Er sah kurz zu ihr, bevor er an sie herantrat. Sie beide waren genau gleich groß. Als seine Finger vorsichtig an ihr Kinn glitten, schien es, als würde ihr Herz in ihrer Brust explodieren. Sie traute sich nicht, sich zu rühren.
"Hat er dir sehr weh getan?", fragte er leise.
Jess wusste, dass ihr Gesicht leuchten musste wie das Rot einer Verkehrsampel, doch sie versuchte ganz cool zu bleiben. Cool zu klingen. "Nein ... es geht schon."
Levi musterte sie einmal, dann nickte er. Seine Finger streiften noch immer über ihr Kinn, bevor er von ihr abließ und sich umdrehte.
"Lass uns gehen. Wir haben noch was vor." Damit setzte er sich in Bewegung.
Jess schwankte. Ihre Knie waren wie Brei. Sie schluckte und versuchte damit etwas Feuchtigkeit in ihre ausgetrocknete Kehle zu bringen, aber es brachte kaum etwas.
In jenem Augenblick fühlte sie sich nicht nur, als wäre sie einen Marathon gelaufen, sondern auch, als würde sie schweben.
Levis Berührung brannte noch heiß auf ihrem Gesicht. Das war der Moment, in dem sie wusste, dass sie verloren war. Und es gab nichts, dass sie dagegen tun konnte.Written by Kirbylinchen.
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L x J
Fanfiction"Ich habe nur eine Frage?", flüstert er in der Dunkelheit. "Wo bin ich?" Als der dreißigjährige Levi Ackermann mitten auf der Straße von Berlin erwacht ist er orientierungslos. Es ist mitten in der Nacht und er weiß, dass er nicht mehr dort ist, wo...