- Levi -

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Jess brauchte gar nichts erklären. Nachdem sie Levi kurz erläuterte, dass es sich bei den schlanken Büchern um Filme handelte, die man sich anschauen konnte, hatte er darauf bestanden, dass sie sie gemeinsam ansahen. Alle. Er wollte alles sehen.
Dem Mädchen schien das nicht zu behagen. Sie brauchte eine halbe Ewigkeit, das Teil in das andere elektronische Teil einzulegen. Am liebsten hätte er sie angeschrien nicht so lahmarschig zu sein, aber er biss sich auf die Zunge.
Stattdessen nahm er die Hülle des Films in die Hand und las sich den Text auf dem Rücken durch.
In 2000 Jahren lebt die Menschheit - oder das, was davon übrig ist - hinter 50 Meter hohen, gewaltigen Mauern. Diese Festung verspricht Sicherheit, doch wer sich nach draußen wagt, kehrt selten unversehrt zurück. Denn die Welt wird von riesigen Titanen beherrscht, die anscheinend nur ein Ziel haben: Menschen zu fressen! Als eines Tages ein Exemplar von ungeheuren Ausmaßen über die Mauer blickt, ahnen die Einwohner von Shiganshina schnell, dass ihrem Dorf nach hundert Jahren des Friedens erneut eine Katastrophe bevorsteht. Doch während sich die meisten hilflos ihrem Schicksal ergeben, schwört der junge Eren Jäger Rache. Eines Tages wird er die Welt jenseits der Mauern entdecken und die Titanen allesamt vernichten!
Levi stutzte. Eren? Der Eren Jäger? Er erinnerte sich an das teilweise laute Mundwerk des Jungen, den er damals unter seine Fittiche genommen hatte. Anfänglich war er ihm ziemlich auf den Sack gegangen, aber irgendwann hatte er ihn sogar so etwas wie gemocht. Vor allem hatte er seine Entschlossenheit bewundert. Ein Kämpfer.
Als Levi aufsah bemerkte er, dass Jess ihn beobachtete.
"Was ist?", wollte er wissen.
Unsicher, sah sie zu Bert, der neben Levi saß. "Muss komisch sein, dass zu lesen."
"Es liest sich, als hätte sich das jemand ausgedacht", gab er zu.
Für einen Moment schwieg Jess. "Bist du sicher, dass du das sehen willst? Ich kann dir auch alles erzählen."
Entschieden nickte er. "Ich will sehen, was deine Welt aus unserer Geschichte gemacht hat."
Unbehagen spiegelte sich in ihrem Gesicht, ehe sie sich seufzend zu ihm setzte. Noch immer hing der Duft von Seife an ihr. Er rückte ein Stück weiter von ihr weg. Versuchte sich ganz auf das zu konzentrieren, was folgen sollte.
Vor ihnen erschien ein Bild. Es waren unverkennbar Eren, Mikasa und Armin. Die drei Kinder, die alle samt unglaubliche Fähigkeiten besäßen hatten. Vollkommen unterschiedlich, aber jeder auf seine Art und Weise nahezu einzigartig. Ein paar Knopfdrücke später waren sie verschwunden und bewegte Bilder wurden abgespielt. Unterlegt mit Musik und Ton. Stimmen.
Eine Gänsehaut breitete sich auf Levis Körper aus. Sie wurde schlimmer, als er daran erinnerte wurde, wie der Bezirk Maria gefallen war, nachdem der kollosale Titan ein Loch in die Mauer gerissen hatte. Menschen starben. Titanen strömten hinein. Levis Hände krampften sich am Stoff des Sofas fest.
Sie schauten Folge im Folge. Levi wollte nicht aufhören, er musste mehr und mehr sehen.
In all der Zeit, sagte er kein Wort. Er spürte Jess' Blick auf sich, die zu erkennen versuchte, wie er auf all das reagierte. Er wusste es selbst nicht. Er wollte lachen und schreien zur gleichen Zeit. Es folgten Todesszenen. Menschen starben, wurden gefressen. Festgehalten in diesen Bildern. Wer zum Teufel, sah sich so etwas bestialisches an?
Irgendwann tauchte Levi selbst zum ersten Mal auf. Nun verstand er allmählich, warum Jess ihn so gut kannte. Alles an dem Levi vor ihm, glich ihm ungemein. Nein. Er war es. Das da war er, mit all seinen Facetten, Stärken und Schwächen.
Es folgten weitere Teile. Teil um Teil um Teil. Und obwohl die beiden noch viele weitere Folgen vor sich hatten, bat er Jess am Abend das alles auszuschalten. Er konnte das nicht mehr mitansehen. Sein Kopf dröhnte. Übelkeit hing in seiner Kehle.
"Das war zuviel, oder?", fragte Jess besorgt, während sie ihre Lampe anknippste und sanftes Licht ins Zimmer brachte. Levi hörte sie kaum. In seinen Ohren rauschte es.
"Levi? Ist alles in Ordnung?" Sie setzte sich wieder neben ihn.
Müde fuhr er sich über das Gesicht. "Das ist es also, was sich in euren Köpfen in unserer Welt zuträgt."
Verlegen strich sie ihr Kleid an den Knien glatt. "Es tut mir leid, dass ich damit Erinnerungen wieder aufwühle, das muss schlimm für dich sein. Niemand von uns kann sich vorstellen, wie es ist in so einer Welt zu leben. All der Tod. Schmerz und Verlust. Und woher sollten wir auch wissen, dass eure Welt wirklich existiert? Nichtsdestotrotz seid ihr alle Helden für uns. Du. Eren. Mikasa. Armin. Jean. Christa. Annie." Sie stockte. "Du kannst ihnen sagen, wenn du zurück in deiner Welt bist, dass es Menschen gibt, die sie verehren. Das sie..." Sie stockte.
Levi entfuhr zum ersten Mal ein Lachen. Es war kurz und hörte sich ganz untypisch für ihn an. Vielleicht auch deshalb, erschrack er sich selbst vor dem Klang.
"Das soll ich ihnen sagen, ja?", fragte er und sah Jess direkt in die Augen.
Vorsichtig nickte sie. Sie schien nicht zu wissen, warum er das so komisch fragte. Wie auch?
"Tja, möchtest du die Wahrheit wissen? Allerdings muss ich dich vorwarnen, sie könnte dich und all die anderen Fans enttäuschen."
Nun runzelte sie die Stirn. "Was meinst du?"
Er schlug ein Bein über das andere und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Plötzlich war er unglaublich wütend. Und traurig... "All das, wie es hier bei euch dargestellt wird, ist nur teilweise richtig. Es fehlen Dinge..."
Sofort sprach Jess dazwischen. "Ich habe noch zwei weitere Boxen. Natürlich ist das nicht alles. Ich weiß selbst, dass noch Dinge fehlen, die-"
"Nein, du verstehst nicht", fiel Levi dazwischen und fixierte sie. "Es sind nur Kleinigkeiten, aber dennoch stimmen sie nicht mit dem überein, was in unserer Welt geschieht. Zum Beispiel haben wir nie das Loch schließen können, welches der Gepanzerte Titan durchbrochen hat. Genauso wenig hat sich jemals dieses Mädchen, Annie Leonhart als feindliche Titanin offenbart."
Jess sah immer verwirrter aus. Wenn sie das schon umhaute, würde sie die nächste Information wohl kaum verkraften.
Levi lehnte sich nach vorn, schloss die Hände ineinander und seufzte." Aber allem voran, ist der größte Fehler wohl, dass laut deinen Angaben all die aufgeführten Personen leben sollen. Tun sie nicht, Jess. Eren, Mikasa, Armin und alle anderen, die ihr so mögt, sind tot. Ich bin der Einzige, mit wenigen namenlosen Ausnahmen, die noch am Leben sind."

Written by Kirbylinchen.

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