Kapitel 11

452 22 0
                                    

Der nächste Morgen begann genauso katastrophal wie die Nacht für ihn geendet hatte. Nachdem Kageyama in den Gemeinschaftsraum gewechselt war, hatte er kein Auge mehr zugetan. Immer und immer wieder ging er im Kopf durch, wie er Hinata fest umschlungen hatte und seinen Namen nuschelte. Er war in diesem Moment so unsagbar glücklich. Doch im nächsten Moment so erschrocken von seinen Gefühlen, dass er den Kleinen von sich stieß. Er brüllte wie am Spieß, Hinata solle ihn Ruhe lassen. Er wusste, dass er ihn mit diesen Worten furchtbar verletzt hatte, er sah es in seinen Augen, etwas in ihm war zerbrochen. Und er war Schuld daran. Aber was hätte er bitte tun sollen? Sie sind doch beide Jungs, das ging doch nicht. Ein Junge durfte sich nicht in einen anderen Jungen verlieben. Ein Junge musste sich in ein Mädchen verlieben. Oder? Immer weiter drehten sich seine Gedanken, doch eine Lösung für seine Lage hatte er nicht gefunden. Er entschloss sich soeben aufzustehen als er hörte, wie jemand den Raum betrat.

„Guten Morgen, Kageyama. Können wir reden?" Suga. Er wusste, dass ihn jetzt ein ernstes Gespräch bevorstand.

„Sicher", antwortete er knapp. Suga setzte sich neben ihn und schwieg lange Zeit. Er wollte schon etwas sagen, doch da fing der Grauhaarige endlich an zu reden.

„Weißt du eigentlich, was Hinata für dich empfindet, Kageyama?", wollte er von ihm wissen.

„Was sollte er schon für mich empfinden? Ich bin sein Partner, sein Freund, manchmal auch sein Rivale." Sein Blick war fest auf seine Füße gerichtet.

„Ja, das stimmt. Aber da fehlt noch etwas ganz Entscheidendes. Für Hinata bist du nämlich mehr als das."

„Das ist doch Unsinn, Suga. Wir sind beide Jungs." Er war unsicher, was würde Suga darauf antworten?

„Ja, und trotzdem liebt er dich."

Kageyama war auf diese plötzliche Direktheit nicht vorbereitet gewesen.

„Weißt du, Kageyama, man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Wichtig ist, dass man zu seiner Liebe steht."

„Mhm", antwortete er verlegen.

„Ich weiß nicht, was diese Situation gestern Abend ausgelöst hat, aber du hast Hinata sehr verletzt, Kageyama." Suga warf ihm einen anklagenden Blick zu.

„Das weiß ich", sagte er beschämt.

„Wenn du das weißt, dann solltest du dich so schnell wie möglich bei ihm entschuldigen." Er stand auf, legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter und ging. Kurz bevor er die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal um. „Auch du solltest ehrlich zu dir sein, Kageyama. Deine Gefühle sind nicht falsch, egal was andere sagen." Damit verschwand er aus dem Zimmer.

Seine Gefühle sind nicht falsch? Es ist nicht falsch, wenn sich zwei Jungs lieben? Er wusste, dass sowohl Nekoma als auch Fukurodani ein Jungs-Pärchen hatten. Ihn hatte das nie gestört, konnte nie nachvollziehen, weshalb eine Beziehung zwischen zwei Jungs, die sich lieben, falsch sein sollte. Es gab auch sonst niemanden hier im Camp, der Kuroo und Kenma oder Bokuto und Akaashi dafür verurteilte oder gar mobbte, dass sie sich liebten. Wenn Hinata also tatsächlich in ihn verliebt wäre, dann...

Ein Klopfen holte ihn in die Realität zurück. Yamaguchi steckte vorsichtig seinen Kopf zur Tür hinein.

„Guten Morgen, Kageyama. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir jetzt alle rübergehen zum Frühstücken.

„Ja, gut, okay. Danke, Yamaguchi."

„Gern." Mit einem schüchternen Lächeln schloss er die Tür wieder.

Kageyama entschloss sich, duschen zu gehen und das Frühstück ausfallen zu lassen. Er hatte eh keinen Hunger.

--

Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass Hinata letzte Nacht viel geweint haben musste. Noch immer waren seine Augen rot und geschwollen. Kageyama hatte sich vorgenommen, gleich vor Trainingsbeginn mit dem Kleinen zu reden. Sie mussten heute in der Halle Trainieren, da es draußen wie aus Eimern schüttete. Gerade als Kageyama auf den Spiker zuging, wurde dieser von Ukai gebeten, Yachi beim Abkleben des Netzes zu helfen. Diese stand bereits auf einem Stuhl und teilte das Netz mithilfe farbigen Klebebandes in fünf gleich große Abschnitte. Sie würden heute ihre Aufschläge verfeinern. Prima, der erste Versuch ging schon mal in die Hose. Jedes Mal, wenn sich Kageyama aufs Neue ein Herz fasste, um Hinata anzusprechen, kam irgendetwas oder irgendjemand dazwischen. Das war doch wie verhext. Er war ernüchtert und schob das Gespräch auf den nächsten Tag.

Suga warf Kageyama einen auffordernden Blick zu.

„Morgen, versprochen", versicherte er dem Grauhaarigen.

Doch auch der nächste und der übernächste Tag verging, ohne das Kageyama die Sache mit Hinata geklärt hätte. Er ließ sich immer neue Ausreden einfallen, warum es dieses Mal nicht geklappt hatte. Im Grunde war er sich durchaus bewusst, dass jeder einzelne dieser Gründe nur einem Zweck diente: das Gespräch hinauszuzögern. Suga war Kageyama bereits auf die Schliche gekommen und hatte beschlossen, diesem ganzen Theater ein Ende zu bereiten. Er zog Daichi ins Vertrauen und obwohl dieser etwas unsicher war, ob dieser Plan nicht etwas drastisch war, stimmte er dem Vorhaben letztendlich zu.

Es war der vierte Tag nach dem großen Krach, als Sugas Plan zum Einsatz kam. Das Training neigte sich dem Ende zu und Daichi teilte Hinata und Kageyama die Aufgabe zu, die Halle aufzuräumen. Nicht besonders begeistert von dem Vorschlag, sich ihrer Pflicht gegenüber dem Kapitän jedoch durchaus bewusst, begannen sie die Halle aufzuräumen. Kageyama schulterte soeben das zusammengerollte Netz als Hinata den letzten Ball in den Wagen warf. Gemeinsam gingen sie auf den hinteren Geräteraum zu, stets darauf bedacht, den anderen geflissentlich zu ignorieren. Kageyama hängte das Netz an die vorgesehene Stelle und beobachtete Hinata, wie dieser den Bällekorb an seinen Platz schob. Dieser bemerkte Kageyamas Blicke.

„Was ist?", fragte er gereizt.

„Was soll sein?", antwortete Kageyama ebenso gereizt.

„Wenn nichts ist, was guckst du dann so?"

„Irgendwo muss ich ja schließlich hingucken, oder?", zischte Kageyama.

„Guck gefälligst woanders..."

Die über sie hereinbrechende Dunkelheit und ein lautes Klicken beendeten das Gezanke abrupt.

„Könnt ihr zwei mich hören?"

„Suga? Was ist los, hast du die Tür zugemacht? Mach sie doch bitte wieder auf, es ist furchtbar dunkel hier drinnen", bat Hinata.

„Nichts da. Da ihr beide es euch offenbar zur Sportart gemacht habt, euch aus dem Weg zu gehen, habe ich beschlossen, dem ein Ende zu setzen. Ich werde euch erst hier herauslassen, wenn ihr zwei euch ausgesprochen und vertragen habt. Essen und Trinken stehen hinten in der Ecke. Also dann, machts gut ihr zwei."

Hinata und Kageyama brauchten einen Moment, um das Gesagte zu verarbeiten. Dann fingen sie beide gleichzeitig an zu brüllen.

„Suga, komm zurück! Das kannst du unmöglich ernst meinen! SUGA!", schrie der Schwarzhaarige.

„Suga, bitte, mach die Tür wieder auf, Suga!", schrie der Orangehaarige.

Als das Licht in der Halle gelöscht und die Tür geschlossen wurde, wussten die beiden, dass Suga nicht zurückkommen würde.

Er soll Mein seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt