Kapitel 55

43 12 6
                                    

Vorsichtig tastete ich mich in der Dunkelheit herum.
Sehen konnte ich noch immer nichts, doch ein kühler Windzug ließ mich erahnen, dass ich draußen war.

"Ruby? Bist du's?," ertönte Envers raue Stimme direckt vor mir.
Ich nickte und bemerkte erst da, dass er das gar nicht sehen konnte.
"Ja," antwortete ich schnell.
"Okay gut," sagte er und zog mich am Arm weiter, nach vorne.
"Kate muss irgendwo hier vorne sein," murmelte er dabei leise.

Und da, ganz plötzlich leuchteten ein paar Meter weiter vor uns unzählige kleine Lichter auf.
Staunend blieb ich stehen und blickte andächtig zu ihnen.
Die kleinen Lichter waren wunderschön, sie erinnerten mich an einen Sternenhimmel.

Enver jedoch ging unbeirrt weiter.
"Kate hat eine Lichterkette dabei," erklärte er mir und ich konnte das Lächeln in seiner Stimme beinahe schon hören.
"Eine Lichterkette? Warum denn das?," fragt ich belustigt.
Er lachte leise, "sie liebt sie und in ihrem Zimmer sind alle Wände behängt davon.
Ohne diese Dinger geht sie nirgends hin."

Nach seiner Erklärung lachte ich mit und mochte die Blondhaarige sogar noch mehr als zuvor.
Das Lachen verging mir jedoch schlagartig, als eine Hand meine Schultern berührte.
Ein spitzer Schrei verließ meine Kehle.

"Ich bins doch nur," hörte ich da eine bekannte Stimme direkt hinter mir.
Caven.

"Oh. Tut mir leid, ich hab mich nur ziemlich erschrocken," erwiderte ich.
"Mir tut es leid," entgegnete der Teddyjunge und trat neben mich.
Sein Geruch nach Holz, gemisch mit dem salzigen Duft des Meeres und der Sonne umhüllte ihn und ich verspürte das Bedürfnis, ihm näher zu sein.
Mein Gesicht an seiner Schulter zu verbergen, durch seine braunen Locken zu wuscheln und ihn zu umarmen.

Sofort vertrieb ich den Gedanken.
Warum dachte ich an so etwas?
"Kommt ihr?," fragte Enver von weiter vorne und riss mich aus meinen Gedanken.
Erleichtert um Ablenkung, folgte ich der Richtung, aus der ich seine Stimme hörte.
Caven ging neben mir und ich fühlte mich in seiner Anwesenheit trotz der Dunkeheit und dem ungewissen Ort, seltsam sicher.

Als wir die anderen erreichten, ergriff Enver das Wort.
"Wir befinden uns auf einer Dachterrasse und haben dank der Lichterketten-süchtigen Kate ein wenig Licht."

Seine Ausdrucksweise brachte mich zum Lachen und Caven stieg mitein.
Enver lachte darauf hin, mit und im fahlen Licht konnte ich erkennen, wie auch Kate grinste.

Es war ein befreiendes Gefühl, so zu lachen.
Ich wusste nicht, wann ich zum letzten Mal so richtig gelacht hatte, doch es war schon eine ganze Weile her.

Nach einer Weile verstummten wir und diesmal sprach ich.
"Also ich finde es hier oben schön. Wollen wir nicht noch einbischen da bleiben und erst später unten schlafen gehen?"

Und so machten wir es.

~~~

Enver sass neben Kate am anderen Ende der Dachterrasse auf dem Boden und sie sprachen im Licht der Handytaschenlampe in der Gebärdensprache miteinander.

Ich sass neben dem Teddyjungen ans metallene Geländer gelehnt und blickte zum Mond herauf, der wunderschön hell über uns allen am Himmel stand.
Neben ihm leuchteten unzählige Sterne und vollendeten das beinahe magische Bild des Nachthimmels.

Früher sass ich oft abends mit Bill und Jane vor dem Haus und wir haben gemeinsam den Mond angeschaut und die Sterne gezählt.
Dabei habe ich den Geschichten gelauscht, die Bill erzählt hat.
Solche Abende waren immer die schönsten.

"An was denkst du?," durchbrach Cavens Frage die Stille.

Kurz herrsche Stille, in der ich nach den richtigen Worten suchte.
Dann fing ich an zu reden.
So, wie ich es noch nie bei jemandem getan hatte.
Ohne darüber nachzudenken, erzählte ich ihm alles.
Die Worte sprudelten regelrecht aus mir heraus und von Sekunde zu Sekunde fühlte ich mich leichter und bemerkte, wie gut es tat, über alles zu sprechen.

Ich erzählte ihm von meinen Eltern, der Adoption, Bill und Jane, ihrem Tod und dem Erbe.

Ich redete, redete und redete.
Redete mir alles von der Seele.

Dabei unterbrach Caven mich kein einziges mal.
Er war ein guter Zuhörer und nach dem ich endete, umarmte er mich einfach.

Ohne etwas zu sagen, hielt er mich fest in seinen Armen und strich mit einer Hand sanft über meinen Rücken.

Ich hatte die Augen geschlossen, mein Gesicht in seiner Schulter vergraben und atmete seinen vertrauten Geruch ein.
Ich fühlte mich geborgen.

Auf der Suche nach meiner  Vergangenheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt