T H I R T Y E I G H T

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Harry blickte voll Sorge zur Tür durch welche Evelyn und Zion in den Gang hinaus getreten waren. Nicht dass er Zion misstraute, nein, das war es nicht. Im ging es allein um die momentane Verfassung der Hellblonden, die so niedergeschlagen aussah, wie damals, als sie des Nachts zu ihm ins Zimmer gekommen war und ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ohne ein Anzeichen einer Lüge und ohne ihn kurz darauf über sein eigenes Leben auszuquetschen, wie es andere aus seiner Schulzeit früher versucht hatten.

Seitdem vertraute er ihr.

Zum Teil weil sie, dadurch dass sie das gleiche Schicksal, einen tyrannischen Vater zu haben, teilten durch etwas verbunden waren, aber auch weil Harry keinen Grund hatte es nicht zu tun. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass die Gesellschaft in der sie alle zurecht kommen mussten, Leuten wie Evelyn gegenüber sehr ungnädig gestimmt war. Weil jene Sorte Mensch zu der sie wie auch Harry zählten von Natur aus eher still war, sich also nicht wehrte oder weiter erzählte was man ihnen antat und weil diese Menschen verschlossen waren, also niemand wirklich etwas über sie wusste, was nur danach schrie durch schamlose Gerüchte geändert zu werden.

Evelyn hatte ihm erklärt, dass sie vor der Apokalypse häufig Opfer von Hänseleien und diversen Gemeinheiten gewesen war, die nicht selten über gewöhnliche doch fiese Scherze hinausgingen. Von Kaugummis in ihrem Haar bis zu Reißnägeln in ihren Schuhen war alles dabei gewesen. Denn abgesehen von Judy, die auch nicht immer bei ihr sein konnte war da niemand der sich für sie eingesetzt und sie verteidigt hatte. Evelyn war ein einsames Mädchen.

Harry selbst war es damals ähnlich ergangen, wieder etwas was den festen Strick des gegenseitigen Vertrauens stärkte und seine Entschlossenheit Evelyn zu beschützen weiter steigerte. Es war kein Geheimnis, dass er das Mädchen mit den faszinierenden Augen ins Herz geschlossen hatte. Sie war freundlich, schön, auf ihre zugegeben etwas schräge Weise lustig, hilfsbereit und hatte diese ganz eigene Ausstrahlung die einen unweigerlich dazu veranlasste ihr seine dunkelsten Geheimnisse anzuvertrauen, da sie einem irgendwie den Eindruck vermittelte weder kritisch noch verständnislos zu reagieren, sondern zu verstehen und zu vergeben.
Man konnte ihr bedingungslos vertrauen.

Klar, auch sie hatte ihre Geheimnisse. Unzählig viele genau genommen, zum Beispiel, wo sie sich die ersten Tage der Apokalypse aufgehalten hatte und warum sie nicht dorthin zurückgekehrt war. Es gab aber auch die ein oder andere unaufgeklärte Frage, die ihm kalte Schauer durch Mark und Bein jagten. Warum wusste sie Dinge über die anderen Gruppenmitglieder, die sie gar nicht wissen konnte? Wie, dass Hailey vor Ausbruch der Seuche ihren Todkranken Großvater nahezu täglich besucht und ihm Schmetterlingsflieder, seine Lieblingsblume, mitgebracht hatte. Oder dass Harry zwei Freunde gehabt hatte, die ihn immer aufzogen, wegen der langen Klamotten die er, wie Evelyn, selbst an den heißesten Tagen getragen hatte. Die ihm sagten er sehe aus wie ein Drogenjunge, der die Einstichwunden der Spritzen an Armen und Beinen verstecken wollte. Freunde die ihm sagten, dass er unausstehlich stank und so ekelhaft verschwitzt war, dass sie ihn nicht Mal mit der Kneifzange anrühren wollten.

„Das hättest du nicht mit dir machen lassen sollen. Das waren keine Freunde." hatte Evelyn ihm gesagt. Harry war an diesem Tag mehr als verdutzt gewesen. „Du hast dir das doch auch gefallen lassen." hatte er erwidert um seine Unsicherheit zu verschleiern, worauf die Hellblonde verschämt gelächelt hatte. Dies war die Wahrheit aller Einzelgänger und all jener die die Gesellschaft nicht haben wollte. Eine unbarmherzige Wahrheit, die Evelyn wie auch Harry bekannt war.

Irgendwann hört jeder auf zu kämpfen und nimmt die Dinge so wie sie sind.

Ja. Evelyn verfügte über eine Art unheimliches Urwissen von der Vergangenheit der Menschen um sie herum. Etwas was sie für Harry irgendwie unerreichbar machte. So als sei sie weit von ihm entfernt, wie die Sterne am Nachthimmel. Schön, glimmend, umwabert von kalt brennendem Leuchten. Und doch war sie ihm so nah wie jemand der ihn bereits seit Jahren kannte und liebte. Es war als stünde sie zu jeder Zeit hinter ihm wenn er sich an etwas erinnerte, als wäre sie Teil dieser Erinnerungen. Es war Harry nicht ganz geheuer. Evelyn war ein einziges großes Fragezeichen in seinem Leben. Ein unlösbares Rätsel.

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