E L E V E N

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Evelyn saß an dem ehemaligen Lehrerpult und zeichnete wie eine Besessene. Das tat sie schon seit Stunden, sobald sie erkannt hatte, dass sie nicht einschlafen würde, was ungefähr um halb drei in der Früh der Fall gewesen war.

Es war stockdunkel  gewesen und da es keinen Strom mehr gab hatte sie auch kein Licht einschalten können. Also hatte die Hellblonde sich mit den schwachen Schatten ihrer Bleistiftstriche auf dem strahlend weißen Papier zufrieden geben müssen, ohne daran zu denken, dass dies auf Dauer schädlich für die Augen war. Das war im Moment einfach nicht wichtig gewesen.

Evelyn hatte in den siebeneinhalb Stunden mehrere Porträts angefertigt, skizzenhafte Darstellungen von allen Überlebenden die hier zusammen mit ihr Schutz suchten.
Sogar Jay und Scarlett.
Anders als bei ihrer Zeichnung von Judy hatte sie keine Schattierungen vorgenommen, da es ihr nur darum gegangen war, dass man die Personen erkannte und weil es dafür eh zu dunkel gewesen war.
Jetzt jedoch, wo die Sonne bereits aufgegangen und es wieder heller war, hatte sie die Skizzen perfektioniert und begann nun damit sie möglichst realistisch aus dem Papier zu schälen.

Zion war als erster an der Reihe.
Evelyn kümmerte sich zunächst um die Augen des Rotschopfs – seinen kühlen Blick, dann arbeitete sie sich systematisch voran.
Sie hatte ungefähr die Hälfte seines Gesichts fertig, als es an ihrer Tür klopfte. Evelyn wusste sofort, dass es nicht Zion sein konnte, den sie im Moment malte, es sei denn er hatte etwas dazu gelernt, denn dieses Klopfen war leiser und weniger aufdringlich. Sie hatte keine Lust aufzustehen um die Tür zu öffnen, die nicht einmal abgeschlossen war. Sie war gerade mitten in einem Mal-Rausch, da ließ sie sich nicht so einfach ablenken. Unbeeindruckt fuhr sie mit ihrer Tätigkeit fort.
Herein!” , rief sie laut vernehmlich und wartete auf das leise Knarzen der sich öffnenden Zimmertür.

Ein Klicken ertönte als derjenige der da draußen stand– wer auch immer es war, die Klinke herunter drückte.
„Guten Morgen, Evelyn!” Harrys Stimme war wie immer sanft und das dumpfe Auftreten seiner Sohlen auf dem Kunststoffboden des Raumes waren zu vernehmen, als er näher trat. „Guten Morgen, Harry” grüßte sie zurück, sah jedoch nicht auf. „Das Frühstück ist fertig, oder?”

„Jup.” Der Weißhaarige stand jetzt direkt hinter ihr und war eindeutig besser gelaunt als das letzte Mal, das sie ihn gesehen hatte. 
Er linste ihr neugierig über die Schulter und sah ihr beim Zeichnen zu, immernoch hatte sie ihn nicht eines Blickes gewürdigt, aber so etwas fühlte man einfach.

„Ich mache noch schnell die Nase fertig, warte kurz” bat sie ihn und das tat er. Es wurde still, abgesehen von dem stetigen Kratzen des Bleistifts auf dem Papier. Harry staunte.
„Das sieht super aus! Man erkennt Zion sofort!” lobte er begeistert und wieder fiel Evelyn auf, dass es ihm um einiges besser ging als am gestrigen Tag und sie fragte sich was dafür verantwortlich war.
Hatte er vielleicht einfach besser geschlafen? Einen schönen Traum gehabt? Hatte einer aus der Gruppe ihn aufmuntern können?

„Danke” lächelte sie und spürte wieder die sich ausbreitende Wärme auf ihren Wangen. Ein weiteres Mal wurde es ruhig.
Schließlich, nach einer Weile setzte sie den Stift zum letzten Mal an Zions Nase und vollendete diese. Dann blätterte sie einige Seiten ihres Skizzenbuches um und zeigte Harry die Zeichnung seiner Selbst.
Sie hob ihm gespielt drohend den Zeigefinger vor sein Gesicht.
„Du bist auch noch dran!” prophezeite sie mit tiefer, verschwörerischer Stimme und begegnete seinen blaugrauen Augen zum ersten Mal an diesem Tag. Harry lächelte, ehrlich und von Herzen. „Das ehrt mich!”

Evelyn lachte leise, stand auf und legte ihr Buch zur Seite. Es klimperte kaum hörbar, als der kleine Eulenanhänger an den Buchrücken prallte. Sie schaute nachdenklich aus ihrem Fenster.
„Ich will eine Erinnerung an euch haben, für den Fall, dass...naja...”
Die Hellblonde versteifte sich bei dem Gedanken wieder ganz alleine zurecht kommen zu müssen und starrte etwas weggetreten nach draußen.

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