S E V E N

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Der Raum, in welchem Evelyn stand kam ihr mehr als nur bekannt vor.

Vier weiß gestrichene Wände mit Bildern, alten Fotos und Postern von Black Pink oder BTS bepflastert, ein großes Fenster mit zugezogenen lila Vorhängen, ein unordentlicher Schreibtisch mit einem Laptop, verstreuten Comics und mit reich gefüllten Stiftehaltern bestückt.
Ein Kleiderschrank, ein Wandspiegel, ein Bett und natürlich die kleinen Sterne an der Decke, die im Dunkeln leuchteten.

Ja, Evelyn kannte dieses Zimmer, sie hatte selbst schon einmal darin geschlafen, auf einer Matratze am Boden.
Langsam trat sie näher an das Bett heran.
Jemand schlief darin, nein, nicht Irgendjemand. Sie erblickte das rote Haar und das vertraute Gesicht, das halb von der fliederfarbenen Decke eingehüllt war.

Judy schlief tief und fest und schien einen angenehmen Traum zu träumen, ihrem ruhigen Atem nach zu urteilen.
Es war ein friedlicher Anblick.
Evelyn fand es beruhigend ihre Freundin so unbekümmert zu sehen und fühlte wie ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen.

Die Sterne an der Decke leuchteten grünlich durch die Düsternis im Zimmer, sie strahlten, aber schienen ihr Licht nicht teilen zu wollen, denn trotzdem blieb alles dunkel.
Evelyn liebte diese Sterne.
Als sie das eine Mal hier übernachtet hatte, hatte sie die halbe Nacht wach gelegen und mit großen, staunenden Augen das grüne Schimmern bewundert und hatte dabei an Nordlichter und Glühwürmchen denken müssen.
Sie hatten sich tief in ihrer Erinnerung eingebrannt und sie jetzt zu sehen kam ihr wie ein wahres Wunder vor.
Ihr Lächeln wurde breiter.

Dann wandte sie sich dem zugezogenen Vorhängen zu, berührte den weichen, samtigen Stoff mit der Handfläche und schob ihn dann zur Seite um nach draußen in Judy's Garten zu spähen. Grelles Tageslicht flutete Evelyn entgegen und vertrieb die Schatten aus dem Raum hinter ihr. Erschrocken kniff sie die Augen zusammen, ließ sie einige Sekunden geschlossen und öffnete sie dann vorsichtig, sodass sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten.

Besorgt sah sie zu ihrer im Bett liegenden Freundin hinüber, um zu überprüfen, ob die noch schlief.
Das tat sie. Ruhig und völlig entspannt lag sie da auf dem Rücken.
Ein Speichelfaden löste sich aus ihrem Mundwinkel.

Evelyn blickte wieder aus dem Fenster.
Wie sie schon beim Aufziehen der Vorhänge festgestellt hatte, war es nicht wie erwartet Nacht, sondern helllichter Tag. Judy's kleiner Garten war hell erleuchtet, der Rasen wie immer ungemäht und mit dem alten, knorrigen Apfelbaum in seiner Mitte.
Das strahlende Gelb der vielen Löwenzahnblüten ließ die Wiese aussehen als wären über Nacht tausende Sternschnuppen auf die Erde herabgefallen und die, die bereits zu Pusteblumen geworden waren, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Federflaum von Eulen-Küken.

Verträumt ließ Evelyn ihren Blick schweifen.

So viele glückliche Erinnerungen.
Sie und Judy sind immer auf den Apfelbaum geklettert, haben die Äpfel gepflückt, natürlich nicht ohne den oder anderen davon selbst zu essen, und dann hat Judy's Mutter einen ihrer berühmten Apfelkuchen gebacken.
In diesem Garten haben die beiden im Schatten des Baumes ihre Hausaufgaben gemacht oder über die Dinge geredet, die ihnen Kummer bereiteten.

Nichts besonders schlimme Dinge. Bei Judy war eigentlich immer ihr alter und inzwischen verstorbener Hund Chips das Thema gewesen.
Auch Evelyn war immer bekümmert gewesen, wenn Chips Mal wieder dem Tierarzt einen Besuch hatte abstatten müssen, weil er schon wieder humpelte, oder etwas mit seiner Hüfte nicht gestimmt hatte.
Chips war ein toller und liebenswerter Border Collie mit grauschwarz gesprenkeltem Fell und gutmütigen braunen Augen gewesen.
Und als er dann schließlich, nach langem Leiden gestorben war, hatten sie und Judy den ganzen Tag auf dem Apfelbaum gesessen, sich gegenseitig im Arm haltend und sich ausweinend.

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