F I V E

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Evelyn war wieder im Wald.
Sie roch feuchte Erde, das Harz und das vermodernde Laub, Düfte, die sie schon immer als angenehm und seltsam vertraut empfunden hatte.
Sie stand im Zentrum ihrer Lichtung, vor dem umgestürzten Baumstamm und sah wachsam auf das Menschenwesen herab, welches darunter lag.

Die Vögel zwitscherten, trillerten und pfiffen von oben aus dem dichten grünen Blätterdach, ungesehen, aber Evelyn wusste trotzdem wo sich eines dieser geflügelten Tierchen versteckte, wenn es sich bewegte.
Dann raschelten die Blätter, oder ein Zweig bog sich ein wenig nach unten.

Ihrem feinen Gehör entging nichts.
Sie hörte Mäusegetrippel, nicht weit von ihr entfernt. Wenn ein Laubblatt vom Wind ergriffen und umgedreht wurde, vernahm sie ein lautes Knistern und jedes Mal, wenn das Menschenwesen ein und aus atmete hörte sie wie die Luft über das ausgetrocknete Fleisch ihrer Kehle geschliffen wurde. Das Haar des Mädchens war verdreckt und ihre Augenlider bebten, waren fest geschlossen. Krampfhaft griffen ihre aufgeschürften Hände nach der schlammigen Erde, griffen zu, ließen los, griffen zu und entspannten sich wieder.

Dreck war unter ihre Fingernägel gerutscht. Dreck klebte in ihrem Gesicht und bedeckte ihre Kleidung, das ganze Mädchen war dreckig. Evelyn beobachtete weiter ihren unruhigen Schlaf.
Sie hatte einen Alptraum.
Der Schweiß floss über ihre Stirn und zog dünne Linien durch die Schlammschicht, welche ihre Haut bedeckte. Ihre Hände gruben weiter in der Erde.

Griffen zu, ließen los, griffen zu, ließen los.

Evelyn wandte sich ab.
Sie schritt tiefer in den Wald hinein, so zielsicher, als würde sie einem roten Faden folgen, der einen Pfad markierend zwischen den Bäumen hindurch gespannt war.
Ein Déjà vu begann an ihrer Hirnhaut zu nagen, als sie leises Plätschern vernahm.

Sie kam an einen Bach.
Das Wasser war kristallklar und gluckste friedlich vor sich hin, während es an ihr vorbei strömte und langsam eine glatte, silbrige Fläche bildete. Bilder und Emotionen durchfluteten plötzlich Evelyn's Körper, so überraschend und klar, dass sie erschrocken aufkeuchte.
Sie sah wieder das Mädchen.
Es saß in einem abgedunkelten, kleinem Zimmer auf dem Boden, die Knie dicht an den Körper gezogen, den Rücken an die Wand gelehnt.

Sie fühlte die Angst und die dunkle Traurigkeit, welche in dem Mädchen wüteten. Sie spürte einen tiefgehenden, hohlen Schmerz in ihrer Brust und ein Rauschen in ihrem Kopf, wie bei einem Fernseher-Sender ohne Empfang.

Und von unten hörte sie, wie sich zwei verschiedene Stimmen gegenseitig anbrüllten.
Das klare Geräusch eines zu eskalieren drohenden Streits.
Sie schrien sich an, kreischten sich Vorwürfe und Beleidigungen entgegen und ein heller klingender Schmerz zog sich, wie bei einer unter Spannung stehenden Stromleitung, von ihren Ohrmuscheln bis hoch zu ihren Schläfen und weiter hinter ihre Augäpfel, wo er begann zu pulsieren. Es war, als wollte er ihre Augen zum Platzen bringen. Zeitgleich wimmerte das Mädchen leise auf und presste sich die Hände auf ihre Ohren, versuchte sich noch kleiner zu machen, als sie eh schon war.

Plötzlich hörte man ein Rumpeln von unten, etwas zerbrach klirrend, was eine weitere Welle gleißenden Schmerzes über die Leitung von ihren berstenden Trommelfellen zu ihren Schläfen schickte.
Etwas klatschte zu Boden.

Dann wurde es still.



Schweißgebadet schlug Evelyn ihre Augen auf. Ihr Blick lag auf einer Decke, die sie nicht kannte, ihr Körper lag auf einem ebenso fremden Boden und es war ungewöhnlich leise.
Schnell setzte sie sich auf und sah sich in dem dunklen Zimmer um, in welchem sie lag.
Das fahle Mondlicht hauchte einen silbrigen Schleier über alles, ließ die Welt so unwirklich aussehen, dass die Schatten lebendig zu sein und sich zu bewegen schienen.
Die Kälte kroch in Evelyn's Glieder und ließ ihre Zehenspitzen taub werden. Ihre Stirn war von  Schweiß bedeckt und ihre Handflächen heiß und feucht, ihr Atem ging stoßweise und ihr Herz raste in ihrer Brust.

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