T H I R T Y N I N E

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Wie gelähmt lag Evelyn auf dem Boden des Klassenzimmers im unvollendeten Schulgang. Es war rabenschwarz um sie herum, doch sie konnte die anderen atmen hören, was sie wenigstens etwas tröstete. Eugene lag dicht neben ihr und noch nie war sie so dankbar für seine Nähe gewesen. Er war warm und strahlte Geborgenheit aus. Sein Geruch war eines der wenigen Dinge, die sie an die alten, besseren Zeiten erinnerte und sie klammerte sich verzweifelt daran. Am liebsten würde sie auf ewig hier liegen bleiben und in der Vergangenheit schwelgen, so als wäre diese ihre Gegenwart.

Die letzten Stunden waren hart gewesen. Nachdem die drei Jungen sie weinend über Zions Leiche gebeugt vorgefunden hatten, hatten sie alle zusammen um die Toten getrauert. Eugene hatte Evelyn in den Armen gehalten, ihr seine Schulter zum ausweinen geboten, seine Hände durch ihr Haar streichen lassen, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Oder eher, bis ihre Augen zu trocken, der Brunnen der Tränen ausgeschöpft und ihre schmerzenden Gefühle sich in eisige Taubheit verwandelt hatten, sodass sie keine einzige weitere Träne mehr vergießen hätte können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber der Schmerz blieb.

Sogar Harry hatte geweint, sich jedoch wesentlich schneller wieder gefangen als Evelyn. Ethan war für ihn da gewesen, obwohl der Schwarzhaarige wahrscheinlich ebenfalls mit seinem Kummer zu kämpfen hatte, selbst wenn es von außen nicht zu sehen war.
Auch Eugene hatte einige Tränen vergossen. Evelyn bezweifelte, dass die anderen beiden dies zur Kenntnis genommen hatten, aber was spielte das schon für eine Rolle?

Zion, ihr Freund, dessen Gefühle sie nicht hatte erwidern können, der so viel hatte kommentarlos wegstecken müssen und Evelyn trotzdem bis zum bitteren Ende begleitet und zu ihr gehalten hatte, war tot. War hinterrücks überfallen und ermordet worden von ihrem Anführer, wie auch schon viele andere vor ihm. Wenn Evelyn jetzt zurückdachte gingen alle Tode die die Übriggebliebenen nun zu beklagen hatten auf Lawrences Konto.  Judy, Jay, Scarlett, Sue, Hailey und Zion.

Und Lawrence?

Der war ihr selbst zum Opfer gefallen. Sie hatte, nach dem sie sich bei ihrem Fluchtversuch auf den Boden geworfen und sich mit der Schere in Händen auf den Rücken gedreht hatte, nichts weiter machen müssen als dagegen zu halten. Lawrence hatte sich auf sie gestürzt und sich das lange Werkzeug selber in die Brust gerammt. Und sie hatte in seine Augen gesehen als das Leben ihn verlassen hatte und sein Blut auf ihren Hals getropft war.
Als die drei anderen Überlebenden sie gefunden hatten war es bereits vorbei gewesen.

Und später, bereits in dem Klassenzimmer mit den vielen Kisten in dem sie nun lagen, und geschlossener Tür, damit sie die Toten nicht sehen mussten, haben sich die vier ihre Geschichten erzählt. Wieder waren Tränen der Wut, Trauer und Schuld vergossen worden und wieder hatte man sich gegenseitig getröstet. Das Hailey tot war, war bereits klar gewesen als die drei Jungen ohne sie hier aufgekreuzt waren, aber die Jungen kannten noch nicht die ganze Wahrheit über Lawrences ursprünglichen Plan.

Evelyn erzählte ihnen alles, bis zu dem Teil an dem der Braunhaarige ihr von ihrer ersten Begegnung vorgeschwärmt hatte, an die sie sich immernoch nicht erinnerte. „Er sagte, das war vor zwei Jahren. Doch ich weiß es einfach nicht. Es fällt mir nicht ein.” teilte sie ihren Freunden kopfschüttelnd mit. Während und nach ihrer Erzählung wurden die meisten schockierten Blicke ausgetauscht und es herrschte die längste Pause, als Evelyn zu erzählen aufgehört hatte. Niemand hätte gedacht, dass Lawrence zu so einem Ausmaß an Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit fähig gewesen und für restlos alle Unglücke in letztes Zeit verantwortlich war.

Ganz besonders Ethan schien davon erschüttert. Er sprach garnicht mehr und mied die Blicke aller, bis Evelyn zuende erzählt hatte. Warum genau er sich zu schämen schien wusste sie nicht. Vielleicht weil er Lawrence sehr nahe gestanden und trotzdem nichts von dessen psychischen Zustand bemerkt hatte. Oder vielleicht hatte er etwas bemerkt aber es für sich behalten. Womöglich aber wollte er nur verstecken, wie auch seine Augen wässrig wurden als er hörte dass sein engster Freund aus der Gruppe eben diese, einschließlich ihm selbst vollständig eliminieren wollte, abgesehen von Evelyn.

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