Der Windvogel

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Schweigend stand der elfjährige Bill Brown vor seinem geöffneten Fenster und lauschte.
Der Wind rauschte durch die Baumkronen und ließ die Blätter erzittern.
Äste knackten und aus weiter Ferne wehte der Schrei einer Eule zu ihm herüber.

Aber das war nicht nach wessen Klang er lauschte.

Es war eine schöne Nacht.
Tausende Sterne standen am Himmel und funkelten klar wie Kristallsplitter im Licht auf dem tiefen Schwarz.
Die Weiden, die nicht weit entfernt von Bills Haus entfernt wuchsen, ließen ihre Blätterschleier im Wind wehen und sahen in ihrer gekrümmten Haltung aus wie verhüllte Gestalten, die sich vor der Schönheit der Sterne verneigten.

Auch die weißen Blumen und Grashalme beugten sich demütig in der sanften Brise nieder und die einzelnen Tautropfen glitzerten wie Diamanten im kalten Sternenlicht.

Ja, es war eine schöne Nacht.
Aber trotzdem war Bill nicht glücklich.
Denn er konnte nichts von all dem sehen.

Er war blind.

Die anderen Kinder in seiner Klasse nannten ihn 'Silberblick-Billy' weil er schielte und ein grauer Schleier über seinen Pupillen lag wie Nebel an einem Oktobermorgen.

Bill fand, dass es schlimmere Spitznamen gab, aber trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, sie hätten ihm keinen gegeben.
Konnten sie ihn nicht einfach nur Bill  oder Billy nennen? War das zu viel verlangt?

Lange würde er eh nicht mehr an dieser Schule bleiben.
Er war blind, konnte nicht lesen und auch nicht schreiben.

Nur zuhören.

Bald würde er an eine Blindenschule wechseln.
Dort würde sich niemand mehr über ihn lustig machen. Aber das war auch nur ein schwacher Trost, denn immernoch, er konnte nichts sehen und das war das Hauptproblem.

Jetzt stand er da, in blauem Schlafanzug, barfuß, mit verwuschelten blonden Haaren, stand da und starrte schielend aus seinem geöffneten Fenster, aus dem ihn der kalte Wind ins Gesicht blies, in seinen Garten, obwohl er ihn nicht sehen konnte.

Er wusste nichts von Weiden oder Bäumen im Allgemeinen, nicht wie sie aussahen, nur wie sie sich anhörten, wenn der Wind ihre Blätter zauste.

Bills Mutter hatte ihm einmal erzählt, dass manche Bäume die Farbe ihrer Blätter wechselten, was auch immer das heißen sollte.
Von Grün zu Rot meinte sie und dann verlieren die Bäume sie im Winter, bis sie im Frühling grün wieder nachwuchsen.

Seine Mutter hatte auch versucht ihm bestimmte Tiere zu beschreiben, das Fell eines Leoparden, zum Beispiel, oder die Federn eines Paradiesvogels.

Aber für Bill existierte nur das was er hörte, roch, schmeckte und fühlte.
Immer wenn er versuchte sich etwas unter den Beschreibungen seiner Mutter vorzustellen gelang es ihm nicht.

Da war nur Dunkelheit.

Und manchmal ihr Schluchzen aus dem Wohnzimmer, wenn er schon längst im Bett lag und versuchte einzuschlafen.

In einer solchen Nacht hatte er zum ersten Mal das Geräusch gehört.
Sein Fenster war nur gekippt gewesen, aber er hatte es trotzdem laut und deutlich wahrgenommen.

Schon immer hatte Bill seine Zeit am liebsten damit verbracht draußen im Garten zu sitzen und den Vögeln zu lauschen.
Er liebte ihren Gesang, die Triller und Pfeiftöne, das Keckern und Krächzen, jeder ihrer Stimmen schien einen eigenen Charakter zu haben.

Das Krähen, Bills Mutter meinte dieser Gesang gehörte einer Krähe, klang für ihn rau, spottend und durchtrieben.
Das helle Zwitschern eines Rotkehlchens war lieblich und hörte sich ganz und gar friedlich an.
Und das Keckern, welches hin und wieder ertönte wirkte auf ihn zornig und aufgebracht.

Aber dieser neue Gesang, den er jene Nacht hörte, hatte eine ganz andere Wirkung.
Dieser Vogel, wenn es denn einer war, sang nur nachts, wenn alle anderen Vögel schliefen.
Er klang traurig, wehklagend und hatte Bill mit den ersten Tönen seiner Melodie verzaubert.

Dieses Lied war alles woran er noch denken konnte, war alles was ihm Trost spendete und doch mit jeder kommenden Nacht noch trauriger machte, in welcher er aufblieb um das zu tun, was er am besten konnte:

Zuhören.

Und jedes Mal wenn der geheimnisvolle Vogel sein Lied beendete, fuhr eine Windböe durch die Baumkronen und ließ die Blätter in einen tobenden Applaus ausbrechen.

Es war das schönste, was Bill jemals gehört hatte.

Doch der Windvogel war immer leiser geworden, schien sich immer weiter zu entfernen.
Und jetzt stand Silberblick-Billy wieder vor seinem geöffneten Fenster und der Gesang blieb aus.
Der Vogel blieb stumm.

Da war nichts was ihn von dieser grausamen, schwarzen Welt wegtragen könnte.
Er war hier gefangen.

Nur das Weinen und heisere Schluchzen seiner Mutter drang zu ihm ins Zimmer und nun kamen auch ihm die Tränen.

Er war weg.

†††††††††††††

Komm, mein Kind, Schlaf noch nicht ein,
Hörst du jetzt zu wirst du glücklich sein.

Da erklingt seine schöne Melodie,
Des Windvogel's Lied vergisst du nie.

Auch jedes andere Kind, das jetzt im Bette liegt,
Lauscht nun seinem Wiegenlied.

Doch verfalle ihm nicht, dem Klang, so rein,
Denn bald schon wird er vergangen sein.

Das ist das Echo, des Windes Leid
Und alles was bleibt ist Traurigkeit.

-Der Windvogel

   Von Raven Black

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