T W E N T Y O N E

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Wo war sie? Evelyn wusste es nicht. Sie konnte nur sagen, dass sie hier in einem alten und verwahrlosten U-Bahnhof lag, dass es eisig kalt war und, dass ihr alles weh tat. Ihr Kopf, ihre Hüfte, ihr Ellbogen aber ganz besonders ihr rechtes Fußgelenk. Es fühlte sich heiß an, pulsierte und zog brennende Furchen zu ihrem Knie hoch, wie Schlagadern, durch die heftig Blut gepumpt wurde.

Von oben flutete das graue Licht eines bewölkten Regentages auf sie hinunter und feiner Nieselregen kitzelte ihre Haut. Sie könnte sich ihren Knöchel genauer ansehen, wusste nur nicht ob sie das sehen wollte, was sich unter ihrer Hose versteckt anfühlte wie ein brodelnder Vulkan. Mit äußerster Vorsicht zog sie den schmerzenden Fuß an und krämpelte zitternd ihr Hosenbein ein wenig hoch. Grelles Rot strahlte ihr entgegen und eine Gänsehaut fegte über ihren Rücken hinweg, als sie sah wie prall und dick das Gelenk angeschwollen war.

Von der höher gelegenen Seite der Treppe konnte Evelyn merkwürdige Geräusche wahrnehmen, dumpfe, schmatzende Laute und hin und wieder ein lautes Poltern. Sie wollte nach oben gehen und nachsehen was los war, ob die anderen in Schwierigkeiten steckten, ob sie vielleicht Hilfe bräuchten, aber diese Treppe hatte viele, viele Stufen und die Hellblonde befürchtete, dass ihr wahrscheinlich gebrochenes Fußgelenk ihren ganzen Körper mit Schmerzen durchfluten würde, wenn sie sich zu viel bewegte, also hielt sie ganz still und rührte keinen Muskel.

Wo war ihre Schere? Sie sah den silbernen Gegenstand nicht und begann sich zunehmend wehrlos und ungeschützt zu fühlen. Hatte sie sie verloren? Hatte sie ihre Waffe überhaupt mitgenommen? Doch. Da war sie sich ganz sicher.

Sie war an diesem Morgen früh aufgestanden und hatte über diesen merkwürdigen Traum nachgedacht, so wie es inzwischen normal für sie geworden war, bevor sie sich ihre Schere geschnappt hatte und in das Klassenzimmer 1-C gegangen war. Auf dem Weg dorthin hatte sie Harry getroffen. Er hatte müde ausgesehen. Sie erinnerte sich noch an sein verwuscheltes, silber-weißes Haar und die tiefen Augenringe. Sie hatte ihn begrüßt und ihn auf seinen Zustand aufmerksam gemacht. Wie war noch Mal ihre Wortolge? Ach, ja. Sie hatte ihm gesagt er sehe echt...

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„...erschöpft aus. Möchtest du dich nicht lieber wieder hinlegen? Ich kann dir etwas vom Frühstück beiseite legen.” bot Evelyn lächelnd an und Harry warf ihr einen dankbaren aber entschlossen Blick zu. „Nein, geht schon. Ich habe nur schlecht geschlafen, das ist alles.”

„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass du aussiehst wie ein vom Himmel gefallen es und furchtbar krankes Mondschaf. Komm, du bist blass, bist offensichtlich müde und du hast heute eh keine Patrouille. Ich sage Lawrence, dass es dir nicht so gut geht und du gehst wieder schlafen.”

Ein Seufzen entwich dem Jungen und vermittelte Evelyn, dass sie ihn überzeugt hatte. Sie grinste. „Geh schon.” sagte sie. Wortlos drehte Harry sich um, öffnete die Tür seines Zimmers, vor welchem er gestanden hatte und verschwand dahinter. Die Hellblonde währenddessen notierte sich in Gedanken ihm, bevor sie zur Außenpatrouille aufbrach, etwas zum Essen zu bringen und setzte ihren Weg fort.

Als sie dann am Gemeinschaftsraum ankam, ihn betrat, die Tür schloss und sich im Zimmer umsah, kippte ihre nachdenkliche, traurige und doch irgendwie zuversichtliche Laune rücklinks und direkt in das tiefe Schwarz, welches sich irgendwie die ganze Zeit über hinter ihr hatte verstecken können. Scarlett kam mit einer giftigen Fratze der Wut auf sie zu gestürmt, ihre Augen loderten, ihre mit langen Fingernägeln bewehrten Klauen griffen nach ihr und schlossen sich um den Kragen Evelyns Pullovers. Die Blonde knirschte mit den Zähnen und baute sich in voller Lebensgröße vor ihr auf, was zu Evelyns Verdruss eine Größe war, die die ihre um mehrere Zentimeter übertraf.

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