꧁Taehyung꧂
Es ist dunkel; mit offenen Augen liege ich auf der Couch. An Schlaf ist nicht zu denken. Meine Gedanken kreiseln, meine Gefühle sind mittlerweile abgekühlt - die Hitze von vorher ist einfach erloschen. Ich fühle mich, wenn ich mich nicht täusche, ziemlich taub. Als hätte ich vor lauter Weinen keine Tränen mehr übrig, aber hat sich dieser Schleier der Gefühllosigkeit um mich gelegt, als es mein Vater mir gesagt hat. Das alte Leben ist vorbei. Meine momentane Lage ist schon fast mit den vergangenen Nächten nach dem Tod meiner Mutter zu vergleichen. Alles ist dunkel und ich fühle mich kalt. Ich möchte einfach wieder aufwachen und alles ist vorbei.
Ich habe diese Zeit damals irgendwie anders verarbeitet als mein alter Herr. Was mir in Form einer Flucht in ein anderes Land geholfen hat, sich damit abzufinden, ist bei meinem Vater in ein zwanghaftes Verlangen/Streben umgeschlagen, seine zerrissene Familie wieder Stück für Stück zusammenzusetzen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Heesung
My love, hast du Zeit für mich?
Sent: 11:34 p.mMein Bildschirm erhellt und wie automatisch schaue ich in das Grelle.
Heesung
Ich brauche dich... So sehr
Sent: 11:35 p.mEine weitere Nachricht folgt. Träge strecke ich meinen Arm aus und greife nach dem Handy, das sich auf dem angrenzenden Beistelltisch befindet. Blinzelnd entziffere ich Heesungs Nachrichten. Ich möchte im Augenblick eigentlich gar nicht mit ihm reden.
Video-Call von: Heesung
Mein Verstand ist noch immer wie in Trance. Mein Ausdruck muss dem eines Augenzeugens sein, der sich bloß wenige Meter neben einem Unfall aufgehalten hat.
Ich blicke nur wenige Sekunden nach Annahme des Anrufs in ein Paar von Mascara unterstrichene Augen. Die Wangen meines Freundes sind leicht gerötet. Sein Schlüsselbein ist unbedeckt zu erkennen. Mein Ausdruck bleibt stumpf.„Ich hab' gesehen, dass du online bist. My love, ich brauche dich, bitte", spricht er und zieht einen Schmollmund. Durch glasige Augen betrachtet er mich. Ich atme tief ein und wieder aus, erhebe mich anschließend von der Couch. Mein Weg führt mich wieder in das Gästebadezimmer. Die schweren Gedanken und die Nachricht, die in meinem Hinterkopf umherspuken, begleiten mich. Irgendwas scheint in mir aufzukochen, aber komme ich einfach nicht zu dem Gefühl hindurch. Es ist hinter einer dicken Tür verschlossen. Langsam bekommt sie Risse.
Die Diskussion, der Streit mit meinem Vater, hat mich viel Kraft gekostet. Ich habe beinahe auf Knien darum gefleht, dass er mich wieder zurücklässt. Ich habe dort ein Leben, einen Freund — über Heesung habe ich zuvor kaum ein Wort verloren — und ich stehe so kurz vor meinem Abschluss. Er blieb gnadenlos, fest von seinem Vorhaben überzeugt. Was soll ich nur tun?
„Du lässt mich immer so gut fühlen. Danke dir, love", sagt Sung anzüglich. Ich lasse die Tür des Badezimmers ins Schloss fallen. Lust darauf die Beleuchtung einzuschalten, habe ich nicht. In der Dunkelheit fühle ich mich im Augenblick wohler.
„Tae, mein Körper sehnt sich nach dir. Mach' doch bitte wenigstens das Licht an, damit ich dich sehen kann." Ich schalte das Licht ein und setzte mich anschließend an den Rand der Badewanne.„Du bist heute so still... Lass'— lass' mich bitte deine Stimme hören. Ich will sie." Kalt schaue ich auf das Display, treffe direkt den des Jüngeren, der sich auf den Laken vergnüglich rekelt. Er trägt keine Kleidung. Auf seiner Haut scheint eingetrockneter Schweiß zu glitzern.
„Bitte, love. Ich—" Ich lasse ihn nicht ausreden, „—meldest du dich nur, wenn du notgeil bist, oder kann ich dir auch anders helfen?" Meine Antwort hört sich schnippisch an. Das gefällt Heesung so gar nicht. Der düstere Ausdruck, der sich auf seinem makellosen Gesicht abbildet, macht mir das unverkennbar klar.Es erinnert mich an den Gesichtsausdruck meines Vaters, als er mir weiter von seinem Vorhaben erzählt hat. Nicht nur, dass ich nicht mehr in mein altes Leben zurück darf, schickt er mich auch noch auf die gleiche Schule wie diesen Jungkook. ‚Damit auch eine Chance entsteht, dass wir zu einer Familie werde, gemeinsam.'
Selten habe ich es so sehr bereut mit meinem Vater verwand zu sein.„E-Entschuldige, Sung..." Es bleibt kurz still zwischen uns.
„Wir können es auch lassen, wenn dir sowieso nichts daran liegt." Er spricht monoton. Im Schneidersitz, sitzt er nun auf der Matratze. Ein Kissen verdeckt seinen Intimbereich.„Dich zwingt keiner", wenn er bloß wüsste. In meinem Kopf kreist so viel. Ich möchte so vieles gleichzeitig. Ganz weit unten in meinem Verstand weiß ich aber, dass ich einfach nur wieder nach Hause möchte. Aber das existiert bald nicht mehr.
„Ich darf nicht mehr zurück nach England, Sung." Anschließend bleibe ich mit dem Freizeichen meines Handys zurück. Er hat aufgelegt.
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Overlooked | Taekook
FanfictionFür die Hochzeit seines Vaters und dessen neuer Frau kehrt Taehyung aus Großbritannien zurück und erfährt kurzerhand, dass er von nun an einen Stiefbruder haben wird. Dieser scheint das ideale Gegen- und Ersatzteil zu dem freigeistlichen Sohn zu sei...