15. The Run-away

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꧁Taehyung꧂

„Du hättest sein Gesicht sehen müssen. So auf 180 habe ich ihn das letzte Mal gesehen, kurz bevor ich zu meinen Tanten gezogen bin." Yoongi lauscht meinen Erzählungen mit Argwohn. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich verzogen und auf seinem Schoß hält er schützend ein Kissen, auf dem er seine Hände bettet. Er hat bislang kaum ein Wort gesprochen. Glatt im Gegensatz zu mir, aus dem die Worte gerade nur so heraussprudeln. Von meinem Hoch an aufgewühlten Gefühlen bin ich nun zwar herunter, doch der Zorn haftet in meinem Inneren wie eine unglaubliche klebrige Masse. Sie überzieht und vernetzt alles.

„Er kann sich in Zukunft aber warm anziehen. Lass eins gesagt sein: Ich lass' mir das nicht weiter gefallen. Ich bin nicht ein Teil seines Marionettentheaters, dass er zum Einsatz bringen kann, wann und wie er möchte. Da mach' ich nicht mit", verkündige ich überzeugt und spüre, wie Tatendrang in mir beginnt aufzukochen. Mir wird plötzlich wieder ganz heiß.

Mein Vorhaben steht eigentlich schon so lange fest, seit dem nicht mehr nach England und vor allem Heesung zurück darf. Mein Vater wird es bereuen, mich hier hierbehalten zu haben. Ich werde ihn dafür mit all meiner Willenskraft sorgen. Wer wäre ich, wenn ich meine Zukunft nicht selbst in die Hand nehmen würde. Die reinste Ironie, wenn man bedenkt, dass ich es bereits ein zweites Mal tun muss. Diesmal aber endgültig.

Ein Kichern. Überrascht erwache ich aus meinen halb geschmiedeten Zukunftsplänen und betrachte einen in sich lachenden Yoongi, dessen rosafarben Wangen auffällig und kontrastreich zu seiner sonst so aschfahlen Haut stehen. Verdutzt mustere ich ihn. Hat er mir zuvor etwa nicht zugehört? Neugierig rücke ich näher zu ihm. Er sitzt an die Wand gelehnt auf seinem Bett und liest erfreut auf seinem Handydisplay.
Mir ist bereits seit dem ich wieder zurück bin aufgefallen, dass Yoongi oft und viel an seinem Smartphone sitzt, lacht und ständig mit jemanden zu schreiben scheint. Das passt gar nicht zu ihm, wie ich ihn von früher kenne. Eigentlich hasst er es doch mit anderen zu Chatten.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?" Seine Antwort ist ein spärliches Nicken. Er schaut nicht einmal auf. Sein Verhalten macht mich sauer. Während ich ihm seit Tagen mein Herz ausschütte, ihm auf dem Laufenden halte und ich berichte, was ich aus meiner Zukunft machen werde, sitzt er einfach da und hört mir nicht mal richtig zu, ist ununterbrochen mit Gedanken völlig woanders. Was soll das?

„Du bist so ein ignoranter Idiot."

Das Lächeln auf Yoongis Gesicht fällt mit meiner Aussage. Er legt sein Handy beiseite auf die Matratze und verschränkt die Arme; auf seinem Gesicht bildet sich ein fragender Ausdruck, unterstrichen von einem provokanten Anheben seiner rechten Augenbraue. Ich schlucke, bin irritiert? Das ist vielleicht das falsche Wort, aber verschlägt es mir dennoch die Sprache. Es bleibt still zwischen uns — die Luft ist so dick, um sie fast zu schneiden —, nur brennen unsere gegenseitigen Blicke auf unserer Haut. Ab und an hört man gedämpft die Stimmen von Yoongis Eltern und Schwester. Unwohl reibe ich mir über den Arm, die Augen nun auf meinen Schoß gesenkt. Meine vorherigen Worte treten Schuldgefühle in mir los, aber weshalb fühle ich mich nun als der Schuldige? Was ich gesagt haben, ist die Wahrheit. Ich habe Yoongi in der Vergangenheit immer zugehört, keine Ausnahme. Ich fühle mich von ihm abgewiesen, als wäre ich nicht wichtig. Sein Smartphone ist wichtig, oder die Person, mit der er schreibt. Habe ich es nicht auch verdient, von ihm die gleiche Aufmerksamkeit zu bekommen, die ich ihm auch geben würde. Warum hört mir denn keiner zu? Bin ich etwa aus Glas? Sieht man mich nicht? Hört man mich nicht? Ich fühle mich immer kleiner - unbedeutender.

„Ich finde allein raus", entgegne ich kurzerhand. Der Ältere hat sich bislang kaum gerührt und sein Ausdruck wandelt sich in etwas Enttäuschtes. Er schüttelt den Kopf als ich aufstehe und mir meine Jacke über die Schultern werfe. Ich habe ihm nichts mehr weiteres zu sagen. Er scheint sich schließlich nicht dafür zu interessieren, wie es um mich steht. Wenn das so ist, brauche ich ihn nicht. Ich brauche niemanden. Allein bin ich sowieso besser dran.

„Willst du wirklich jedes Mal woanders hin flüchten, wenn dir etwas nicht passt?" Yoongis Worte lassen mich innehalten. Die Türklinke habe ich bereits in der Hand. Seine Stimme ist sanft. Nicht erzürnt oder knurrend, wie ich erwartet habe.

„Eigentlich wollte ich erst gar nicht gehen—", enttäuscht und irgendwie auch verwirrt trete ich in den Flur „— ich hatte aber auch keine andere Wahl."

Overlooked | Taekook Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt