20. The single coward ꧂

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꧁Taehyung꧂

Das Schulgebäude liegt hinter mir. Der Klassensaal und dessen Schüler liegen hinter mir. Namjoons kalter Blick ebenfalls. Seine Worte haften jedoch in meinen Gedanken wie eine klebrige Substanz, die jegliche weiteren Gedankengänge sabotiert.

„Wenn du zu Hause genauso drauf bist, kann Jungkook einem wirklich leidtun."

Was soll das heißen? Ich habe mir das nicht ausgesucht. Das ist das Letzte, was ich je wollte. Was fällt diesem Kerl überhaupt ein? Ich verhalte mich den Umständen entsprechend und die Umstände sind sichtlich schlecht.

Er hat doch keine Ahnung!

Ich habe mir das nicht ausgesucht. Das ist nicht meine Schuld. Jungkook ist selber—

Meinem Marsch, der ziellos durch die Straßen der Stadt führt, wird von Schluchzen Einhalt geboten. Ich schwänze den Unterricht; schon wieder. Wie erstarrt halte ich inne, als entfernte Laute meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie lassen mir das Blut in den Adern gefrieren, da ich dieses Mal ahnen kann, wer da verängstigt nach Hilfe ruft.

„H-hört auf... Bitte!"

Die Situation ist das reinste Déjà-vu. Selbst das Wetter zeigt sich in der gleichen Form; dunkel, grau, kalt.
Es ist doch Sommer?

Angespannt ballen sich meine Hände zu Fäusten. Ich schlucke hart. Die Stimmen werden lauter. Vielleicht verhöre ich mich ja doch bloß. Meine Muskeln entspannen sich wieder. Solche Zufälle soll es geben. Tief atme ich ein und aus.

„Schlag doch endlich mal zurück, du kleine Schwuchtel! Du bist ja noch jämmerlicher als sonst."

Ein flüchtiger Blick in die nächste Seitengasse bestätigt meine Vermutung. Keine weitere Menschen sind hier auf den Straßen unterwegs. Keine Zeugen. Es durchfährt mich wie ein Blitz, als ich erkenne, wie zwei dunkelhaarige Jungs, Kleidung zerrissen und geschmückt mit allerhand Silberschmuck, den Sohn meiner Stiefmutter an eine Hauswand gedrückt halten, die Füße berühren nicht den Boden. Ein weiterer von ihnen hält das Kinn ihres Opfers etwas nach oben. Voller Spott blickt er in die halb verschlossenen und vor allem von Tränen umspülten Augen. Die Kleidung des Jungen ist verdreckt und weist unzählige Schäden auf. Vereinzelte rote Tropfen befinden sich auf dem Stoff seines Oberteils. Die identische Flüssigkeit zu der an den Fingerknöcheln seines Peinigers. Dieser lachte höhnisch.

„Mal sehen, wie lange du noch aushältst. Ruf' doch nach deine Mama. Vielleicht kommt sie ja und sieht endlich, was für ein Lutscher du bist."

Es setzt einen weiteren Schlag und dieser trifft den Wehrlosen direkt in die Magengrube. Unter Schmerzen verzieht er sein Gesicht. Mein Stiefbruder hat aber nicht einmal mehr die Kraft einen verzweifelten Laut von sich zu geben. Hilflos ist er den drei Schlägern ausgeliefert. Ich stehe wie angewurzelt da, krallen meine Fingernägel in den Putz der Hauswand, an der ich lehne.

„Jungkook—"

Erschrocken löse ich mich von der Wand, welche mir in den letzten Augenblicken Schutz und vor allem Deckung gespendet hat, und trete unfreiwillig in Angesicht der vier Personen. Alle Stimmen in meinem Inneren appellieren, dass ich Jungkook zu Hilfe eilen solle, ihn von diesen Schlägern befreien solle.

Ein Feigling, das bin ich.

Als die Köpfe aller Beteiligten sich zu mir wenden, drei Paar giftige Blicke auf meinen vor Angst bebenden Körper treffen, siegt die Panik in meinen Adern und ich ergreife schlagartig die Flucht. Über meine Füße stolpere ich, durch Tränen in meinen Augen sehe ich nicht, durch Jungkooks verängstigten Blick hasse ich mich.

Es tut mir leid.

Völlig außer Atem komme ich zu Hause an. Der Regenfall, der mich unterwegs hatte einholen können, hat meine gesamte Kleidung durchnässt. Ich triefe.
Meine Hände zittern, mein rasendes Herz ist keine große Hilfe, als ich nach dem Haustürschlüssel in meinem Schulrucksack wühle. Nach gefühlten Stunden finde ich ihn endlich. Das bitterkalte Metall berühre ich und führe es anschließend an das Schloss. Der Schlüsselbund klappert, als ich endlich die Haustür dazu bringen kann aufzuspringen.

Ich weiß nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Schuld—

„Ich will doch einfach nur zurück!", rufe ich übermannt und lasse die Tür zurück ins Schloss fallen. Zu Hause ist keine weitere Seele. Sie alle sind ausgeflogen wie die Raben. Nur ich bin der, der an diesen Ort gekettet ist.

Jungkooks Blick hat sich in meinen Verstand gebrannt. Hilfe suchend hat er mich angeblickt, mit seinen Augen förmlich gebettelt ihm zu helfen. Das wird mich in meinen Träumen verfolgen.

„S-Sung, hörst du mich?"

Mein erster Ansprechpartner. Er ist derjenige gewesen, den ich in den vergangenen drei Jahren als erstes benachrichtigt habe, was auch immer mich verängstigt hat. Mein Freunde, der, an den ich glaube mein Herz verloren zu haben. Ich habe es ihm jedenfalls geschenkt. Keine Sekunde vergeht, in der ich nicht an ihn denke.

Er gibt aber doch seit Tagen kein Lebenszeichen mehr von sich...

„Geh' ran, Sung..."

Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich den Jüngeren angerufen. Wieder einmal. Ich sitze mittlerweile am Tisch im Esszimmer, frierend in den noch immer nassen Klamotten. Was Yejin dazu sagen wird?

„Sung, i-ich weiß, damit hast du nicht gerechnet. Glaub' mir doch, dass ich zurückkommen würde, wenn ich dürfte", klage ich leise in das Smartphone in meiner Hand, halte die Augen dabei verschlossen und versuche endlich zur Ruhe zu kommen. Mein Herz schlägt wie verrückt. Es verrät mich.

War das die Idee deines Alten?"

Die Stimme auf der anderen Leitung klingt eintönig, hat mich die Antwort allerdings derart überrascht, dass ich vor Freude die eigentlich trüben Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Ich fühle mich auf einmal so erleichtert.

Er hat endlich geantwortet.

„I-ich wollte das nie, Sung. Glaube mir! Oh, bitte! Glaub' mir. Das wollte und will ich nie. Ich will zurück. Ich will endlich zu dir zurück!"

Er ist kurz still zwischen uns, nur Rascheln ist zu hören. Der Klos in meinem Hals verhindert mir das Sprechen. Heesung schweigt.

„I-ich vermisse dich so sehr, Sung", weine ich verzweifelt und lasse den angestauten Frust endlich frei. Es tut weh, aber scheint es mir dadurch endlich besser zu gehen. Der Nebel in meinem Kopf lichtet sich.

„Wie lange dauert das denn noch?" Diese dritte Stimme klingt leicht außer Atem.
Hinter Sungs eisernem Schweigen ist sie ertönt. Sie ist männlich, tief und lässt mich die Ohren spitzen. Ich kenne sie nicht.

Mein Freund entgegnet den fremden Worten mit einem tiefen Seufzen. Ich kann mir seinen Gesichtsausdruck authentisch vorstellen. Die Augen verdreht, die Lippen leicht verzogen. Ich möchte sie so gerne wieder küssen.

Wann hat dieser Albtraum endlich ein Ende?

Tae— Taehyung, ich sehe in unserer Beziehung keinen Sinn mehr. Diese Distanz tut mir nicht gut. Ich brauche dich hier und nicht am anderen Ende der Welt. Es tut mir leid, aber ich möchte...
Ruf mich nicht mehr an, verstanden?"

Eine aus der Asche auferstandene Hoffnung zerberstet wie eine Porzellanfigur und zerschellt in unzählige Teile.

„Sung?" Ist das nun meine Bestrafung, für meine Feigheit? Es ist mir kaum noch möglich mein Handy in den Händen zu halten. Es tut weh. Alles tut weh.

Es tut mir leid", klingt mir seine sanfte Stimme entgegen, verzogen und leicht knisternd durch die Distanz, die uns trennt. Ich wollte das nie.

„Leb wohl, Taehyung. Sei glücklich da drüben."

Overlooked | Taekook Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt