10. Cocoa

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꧁Taehyung꧂

In dieser Nacht bin ich glücklicherweise nicht in der Badewanne eingeschlafen. Immerhin. Verwirrt, verunsichert und... Enttäuscht? — habe ich mich noch zurück zur Couch im Wohnzimmer gequält. Zusammengerollt wie eine Katze bin ich schlussendlich in einen unerholsamen Schlaf gefallen. Immer wieder hat mich nämlich ein einziges Gefühl und Szenario geweckt: Ich bin verunsichert und fühle mich machtlos, fast schon klein. Mein Vater hält unterschiedliche Ketten in den Händen. Ich komme nicht von ihm weg. Von weitem sehe ich Licht, angenehmes Licht. Durch ihn bin ich aber gezwungen, in der Dunkelheit zu bleiben. In das Licht tritt eine Person. Ihre äußere Erscheinung war die einer Frau.

Der immer wiederkehrende Traum nimmt ein Ende, als Yejin im Morgenmantel die Treppen herunter schreitet. Ihre Pantoffeln schlurfen über das Parkett.
„Oh, guten Morgen, mein Lieber. Scheinst nicht gut geschlafen zu haben, oder? Komm, ich mach' dir eine schöne heiße Schokolade." Ihre mütterliche Fürsorge trifft bei meiner erstarrten Stimmung auf Granit. Ich dachte meine Gefühle wären wie ein toter Vulkan einfach erloschen, aber schlägt dieser Stillstand — mein Kopf möchte einfach nicht verstehen, was mein Vater mit meiner Zukunft anstellen möchte — in reine Abscheu um.

„Weißt du was, Tae? Nach dem Frühstück, deiner Tasse Kakao, gehen wir zusammen Sachen besorgen, die du für die Schule brauchen wirst. Auch können wir endlich Möbel für dein neues Zimmer besorgen. Jetzt bist du ja schließlich endlich hier."
Die Tasse stellt sie vor mir auf dem Tisch ab. Beinahe schwappt die braune Flüssigkeit über den Rand.
Ich betrachte kurz die Brühe, auf der sich kleinste Bläschen gebildet haben. Angeekelt schiebe ich das Getränk von mir.

„Ich habe keinen Hunger", entgegne ich, bereits auf dem Weg zurück auf die Couch (mein Rückzugsort).
„Später kann ich dir nach deinem Wunsch etwas kochen. Ich ziehe mich gleich um, dann können wir auch los. Ja?"
Meine feindseligen Blicke oder schnippischer Tonfall scheint ihr in das eine Ohr hinein und in das andere wieder herauszugehen. Ungläubig schaue ich ihr nach, nachdem sie ein kleines Frühstück zu sich genommen hat und darauf dann die Treppen wieder heraufsteigt. Ihre gesamte Ausstrahlung macht mich irgendwie nervös. Ich traue ihr nicht. Irgendetwas stimmt doch nicht mit ihr.

Es dauert nicht lange, da befinden wir uns beide in der Einfahrt unseres neuen gemeinsamen Zuhauses. Ich setze mich demonstrativ auf die Rückbank. Mein Blick ist die gesamte Fahrt über aus dem Fenster gerichtet. Es ist totenstill und nur das Radio springt ab und an ein, wenn ein Verkehrsproblem auftaucht. Mein Handy habe ich Zuhause liegen lassen. Seitdem Sung sich nicht mehr meldet, habe ich es ganz aufgegeben mit überhaupt noch jemandem zu kommunizieren. Selbst mit Yoongi habe ich seit der Hochzeitsfeier nicht mehr gesprochen.

„So, junger Mann. Wir wären angekommen." Mein Blick fokussiert sich auf die Einkaufsmärkte, zu denen Yejin uns kutschiert hat. Keine eine Silbe verlässt meine Lippen, als wir zusammen die Warenreihen abklappern. Immer wieder greift sich nach Utensilien, die ich für meinen kommenden Schulaufenthalt benötigen werde. Sie fragt mich, ob ich dies oder das haben möchte, ob es mir gefällt, was ich davon halte.
Zu Hause in Heesungs und meiner Wohnung — er und ich sind, nachdem meine Tanten eine Tochtet adoptiert haben, zusammengezogen — besitze ich bereits alles für mein letztes Schuljahr.

Seufzend atmet sie aus, als wieder an Schwall ihrer Worte unwirksam an mir abprallen. Ich trotte stumm neben dem Einkaufwägelchen her, habe meine Hände in der Bauchtasche meines Pullovers versteckt.
„Tae—", beginnt sie, „Kuck' doch nicht so traurig. Gib' dem Ganzen doch eine Chance. Hier in Korea bist du wieder bei deiner Familie. Es gibt nichts Wichtigeres für einen jungen Menschen als eine intakte Familie." Meine Augen weiten sich. Ich glaube kaum, was ich da höre. Wie der Zeuge eines Verbrechens seiend, drehe ich mich der neuen Frau meines Vaters zu. Mama hätte so etwas nie gesagt.

„Was hast du gesagt?", frage ich nach.
„Och, mein Großer. Ich weiß, das alles kam dir jetzt so plötzlich, doch dein Vater und ich wollen dir nur das Beste—", sie streckt die Hand nach meiner Wange aus. Ich lasse sie nicht zu Ende sprechen. „Fass' mich bloß nicht an", entgegne ich und schlage dabei die Hand von mir weg.
Erzürnt lasse ich die geschockte Frau zurück. Die Blicke umstehender Ladenbesucher interessieren mich nicht.
Ich habe einen Tunnelblick — schon wieder — und verlasse so kochend vor Wut den Einkaufsmarkt.

‚Das beste für die Familie', wenn ich nicht lache. Seit Mamas Tod ging es mir nie besser, als während der Schulzeit in England. Ja, es war anstrengend. Ja, ich habe derweil viel geschuftet, aber habe ich die Selbstständigkeit und den Neustart meines Lebens in vollen Zügen genossen— lieben gelernt. Warum nimmt man mir schon wieder das, was mir am meisten bedeutet?

Überfordert und hilflos, ohne Aussicht auf Besserung, lasse ich mich an der Beifahrerseite von Yejins Auto hinuntergleiten, bis ich auf den rauen Asphalt treffe. Bei Mama wäre das nie passiert. Ich ziehe die Beine eng an meinen Körper, bette meinen Kopf auf den Knien ab. Ich möchte nicht, dass jemand meine Tränen sieht.

Overlooked | Taekook Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt