꧁Jungkook꧂
Es ist kalt in dem dünnen Schlafanzug, den ich trage. Ich schlucke, als der Ältere mich mit friedlichen Augen mustert. Er sitzt im Schneidersitz vor dem Esstisch, sein Handy liegt vor ihm. Ich wünschte, ich hätte sein Telefonat nicht belauscht. Mit einem flauen Gefühl im Magen, schreite ich auf ihn zu.
„Du empfindest also genauso?"
Seine Stimme ist, durchsiebt von Erleichterung. Auch könnte ich schwören, ein Glitzern in seinen Augen zu erkennen. Ich nicke, um seine Frage zu bestätigen. Wer weiß heutzutage schon, was man fühlt. Unsicher.
„Seit... Seit wann, weißt du..."
Er erhebt sich, ein wankendes Lächeln auf den Lippen. So glücklich hat er noch nie ausgesehen. Mein Ausdruck bleibt unverändert.
„I-Ich würde dich jetzt sehr gerne küssen."
Von seiner Direktheit überrascht, trete ich einen Schritt zurück. Ich erinnere mich sehr gut an das, was ich zu Jimin gemeint habe in dieser Nacht. Meine Gefühle waren an diesem Tag ein reines Wirrwarr. Etwas hat mich sprechen lassen, ohne dass ich es wirklich kontrollieren konnte. Oder war ich doch klar bei Sinnen?
Irritiert blinzele ich, den Blick dem Boden zugewendet.Er kommt langsam auf mich zu. Seine Schritte werden immer lauter. Ich neige den Kopf zur Seite.
„Was hast du?" Er reicht seine Hand achtsam nach mir aus, bis sie meine Wange berührt. Diese Berührung löst eine Art Funken auf meiner Haut aus. Sein Ausdruck ist voller Gefühl, als ich endlich zu ihm aufschaue, in seine Augen blicke und er das Chaos hinter den meinen erkennt. Zumindest denke ich das.
„Wieso bist du immer so warm?", spreche ich leise und schmiege mich an seine Berührung, der ganze Zweifel zerfällt einfach zu Staub. Er kichert. Keine Sekunde später höre ich seinen Herzschlag. Eng schlinge ich die Arme um seine Taille, versuche durch seine Nähe, alle Gedanken abzuschütteln. Frei von ihnen.
„Ich liebe dich, Jungkook."
Nicht genug bekommend und kein anderes Empfinden zulassend, lasse ich mich völlig fallen. Er hat die Kontrolle; soll mich wieder vergessen lassen.
An diesem Abend hört er nicht ein einziges Mal meine Stimme. Es ist, als wäre sie erloschen. Erloschen, wie ein kleines Teelicht. So, wie man den leicht schwelenden Rauch noch erkennen kann, so weiß auch er, dass meine Stimme kurz zuvor noch zu ihm gesprochen hat. Ihr anschließendes Fehlen scheint er wie zu vergessen. Mein Schweigen hält an, auch als wir unbekleidet am nächsten Morgen von Getuschel und Schritten geweckt werden. Mein Körper ist von den vergangenen Stunden noch sehr erschöpft. Kaum bin ich in der Lage meine Augen aufzuschlagen.
Ineinander verschlungen, liegen wir auf dem weichen Polster der Couch, eine Decke hat uns über Nacht warmgehalten. Die Brust des Älteren hebt und senkt sich stetig. Ich liege mit meinem Kopf auf seinem Brustbein, seinem Herzschlag lauschend. Ein einschläferndes Spiel.
„Ich kann es nicht glauben, dass sich die beiden einfach nicht gemeldet haben. Langsam bin ich mit meiner Geduld wirklich am Ende. Und dann noch die E-Mail der Schule und sogar der Polizei!" Mama klingt wütend. Das ist sie nie. Sie hasst es. Ich habe sie in all den Jahren erst ein zweimal so erlebt.
Taehyung mag davon zwar nichts mitbekommen, doch bin ich mittlerweile hellwach. Um meine Mutter und ihren Mann nicht aufzufallen, bleibe ich reglos liegen, verschließe die Augen und schmiege mich an den Schlafenden.
„Ich hätte sterben können vor Sorge." Mit diesen Worten betritt sie das Esszimmer. Taehyungs Vater folgt ihr. Brummend stimmt er ihr zu. Er hat bislang nicht ein einziges Wort verloren. Die Schritte werden lauter. Sie beide müssen derweil den Esstisch erreicht haben.
„Aber die beiden vertragen sich wenigstens endlich."
Das Herz des Älteren nimmt an Geschwindigkeit auf, als die Stimme seines Vaters erklingen. Ich öffne wieder meine Augen und unsere Blicke treffen sich. Er sieht erschrocken aus und scheint mich erst nicht zu erkennen. Blinzeln. Sein Ausdruck verweichlicht.
„Es war dennoch ein Fehler, Tae hier herzuholen." Mama bestätigt seine Aussage. Das leise Geräusch eines zarten Kusses ist zu hören. Was in Taehyung dazu wohl denkt?
„Ich stehe im Kontakt zu der Universität, bei der er sich ursprünglich in England bewerben wollte." Ein Seufzen. Der Körper unter mir versteift sich. Er langt nach meiner Hand. Sie ist kaltschweißig.
„Sie wollen ihn dank seiner vergangenen Leistungen aufnehmen."
Er drückt fest zu, den Blick gen Decke gerichtet. Sein Kiefer spannt sich an.
„Dann gehen die beiden wenigstens im Frieden auseinander. Vielleicht vergisst er uns dann auch nicht völlig." Es sind brechende Herzen zu hören. Das des Sohnes, das des Vaters— mein Herz weiß nicht, was es denkt. Werde ich Taehyung jetzt verlieren? Werde ich dann ganz allein sein? Allein, wenn diese Monster zurückkommen? Allein, wenn von meinen Gedanken und Gefühlen übermannt werde? Wie soll ich vergessen, wenn er nicht mehr da ist? Was soll ich tun? Was wird aus mir?
Ich streiche langsam mit dem Daumen über die mich haltende Hand, doch verhindert es nicht das Rennen der Tränen in Taehyungs Gesicht. Mein Nagel bohrt sich in das Fleisch des anderen. Er darf nicht gehen. Ich darf ihn nicht loslassen.
„Das ist das Mindeste, was du nun für ihn tun kannst."
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Overlooked | Taekook
FanfictionFür die Hochzeit seines Vaters und dessen neuer Frau kehrt Taehyung aus Großbritannien zurück und erfährt kurzerhand, dass er von nun an einen Stiefbruder haben wird. Dieser scheint das ideale Gegen- und Ersatzteil zu dem freigeistlichen Sohn zu sei...