12. Thoughts, regret

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꧁Taehyung꧂

Die zuvor im Raum wabernde Skepsis wandelt sich zu einem allgemeinen und allumfassenden Schock der Beteiligten. Ich lasse den Rucksack von meiner Schulter gleiten und trete auf den leeren Sitzplatz in der letzten Ecke des Raumes zu. Er liegt am Fenster. Dort hinten habe ich meine Ruhe und kann ungestört aus dem Fenster schauen. Was die Lehrer von mir wollen, ist mir offiziell egal geworden, als meine Schuhsohle vorhin den asphaltierten Schulhof berührt hat.

So kenne ich mich gar nicht. Das... das ist irgendwie erschreckend. Das ist die Schuld meines Vaters. Sollte ich meine Entscheidung, diese Schule von Anfang bis Ende zu verfluchen und meine Pflichten als Schüler die Pistole an den Kopf zu halten, noch einmal überdenken? Mein Vater trägt die Schuld daran. Lebe und sterbe mit den Konsequenzen. Mama hätte es mir wieder ausgeredet, sobald sie es herausgefunden hätte. Nein, sie hätte es erst gar nicht zugelassen. An Tagen wie diesen vermisse ich sie besonders.

„Hey, Kim Taehyung, richtig?" Eine recht tiefe Stimme beendet mein Gedankenspiel. Es muss wohl Pause sein. Ich runzele die Stirn und blicke eine groß gewachsenen Blondschopf in das schmale Gesicht. Seine braunen Augen haben eine Echsen-förmige Gestalt. Er hat blassrosa-farbige Lippen. Die Untere klemmt leicht zwischen seinen Zähnen. Seine schmalen Augenbrauen sind zusammengezogen. Er wirkt einschüchternd. Unbeeindruckt schaue ich zu ihm auf.

„Ja, Sie wünschen?" Sein Ausdruck wandelt sich zu einem spielfreudigen Lächeln. Er verschränkt die Arme vor der breiten Brust. Kleine Grübchen bilden sich auf seinen Wangen.
„Kim Namjoon, Schülersprecher, eine Freude dich kennenzulernen", meint er und reicht mir seine Hand. Ich nehme sie an — er hat einen ziemlich festen Händedruck —, mein Blick strahlt die reiste Verwirrung aus. Der Sache traue ich ganz und gar nicht. Vor allem nicht diesem Kerl. Denkt er, dass ich ihm den Platz direkt am ersten Tag streitig oder was?

„Fühle dich in deinem Reich nicht bedroht, Schülersprecher. Kein Interesse." Mir wird das zu bunt. Seufzend greife ich nach meinem Rucksack und verlasse zügig den Klassensaal. Diese stechenden Blicke folgen mir, bis ich außer Sichtweite bin. Den Flur trabe ich, ohne auf meine Umgebung zu achten herab. Mir sind die Fehlstunden am ersten Tag egal, die Konsequenz, die anderen Schüler, die Lehrer und dieser Schulsprecher.
Kaum habe ich das Ende des Schulhofs erreicht — bei den Treppen im Schulgebäude bin ich zuvor fast aus dem Gleichgewicht geraten — halte ich inne und blicke kurz zurück. Am Himmel stehen dicke Regenwolken — wie passend.

Zum Heulen ist mir zwar im Augenblick nicht zumute, aber macht mir das alles dennoch stärker zu schaffen, als es mir lieb ist. Diese Gefühlsachterbahnfahrt der ständigen Überraschungen und Wendungen — mir reicht es. Ich möchte doch einfach zurück an meine alte Schule, zu Sung. Unsere Funkstille raubt mir den letzten Nerv. Jetzt brauche ich ihn, mehr als je zuvor. Bin ich ihm etwa egal?

„N-nein, bitte", kommt es von etwas entfernt. Hinter den Hecken des Schulgeländes vermutlich. Die Stimme klingt verängstigt, zersetzt von Schluchzen.

„Das ist nicht unser Problem, Hopper", entgegnet eine raue, männliche Stimme, bei deren Klang es mir eiskalt den Rücken herabrinnt. Zügig verlasse ich den Schulhof, schultere meinen Rucksack neu und schüttele den Gedanken, der Person zur Hilfe zu eilen, ab. Ich sollte eigentlich nicht hier sein. Das ist nicht mein Problem.

Das schlechte Gewissen haftet mir beinahe die ganze Zeit an den Hacken, bis zu dem Moment, als ich spät Abends — viele verpasste Anrufe meines Vaters finden sich auf meiner Anrufliste — nach Hause komme. Die verängstigte Stimme, die mir irgendwie etwas bekannt vorgekommen ist, wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dank meines Gewissens habe ich die Angst vor den Konsequenzen, da ich schließlich gut 90 % des heutigen Schultags geschwänzt habe, völlig vergessen. Ich bin den gesamten Tag durch den Stadtteil geschlendert, in dem ich aufgewachsen bin. Vieles ist noch so wie früher. Mama habe ich auch besucht.

Müde stehe ich nun vor der Haustür und klopfe an. Ich habe Heesung immer noch nicht erreicht. Ich verstehe ihn nicht. Als die Tür geöffnet wird, treffe ich auf eine Yejin, der die Erleichterung sichtlich ins Gesicht geschrieben steht. Hat sie sich Sorgen um mich gemacht?

„Da bist du ja! Wir sind beinahe gestorben vor Sorge. Die Schule hat uns benachrichtigt, dass du... Komm' erstmal rein." Sie stoppt in ihrer Aussage und mustert mich bloß bedrückt. Wie muss ich bitte ausschauen? Müde fahre ich mir durch Gesicht und nicke ich bestätigend zu, folge ihr in den Hausflur. Ich möchte eigentlich nur noch schlafen.

„Komm', das Essen steht schon auf dem Tisch. Iss bitte mit uns, Taehyung."

Overlooked | Taekook Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt